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Der falsche Aufkleber

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Seit 1958 ist Günter Rehak Mitglied derSPÖ. Er ist gegen die Abtreibung und für die Lösungsversuche, die die Plattform „Geborene für Ungeborene" anzuregen versucht.

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Seit 1958 ist Günter Rehak Mitglied derSPÖ. Er ist gegen die Abtreibung und für die Lösungsversuche, die die Plattform „Geborene für Ungeborene" anzuregen versucht.

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In den sechziger Jahren, die in mancherlei Hinsicht neue Formen der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit sich gebracht haben, entstanden zahlreiche „single purpose move-ments" (auf einen einzigen Zweck gerichtete Bewegungen). Auf diese Weise versuchten Leute, die mit unterschiedlicher Begründung in einer bestimmten Frage das gleiche Ziel verfolgten, über Organisationsgrenzen hinweg gemeinsame Aktionen zu setzen und Mehrheiten zu suchen. Diese Art politischer Betätigung führte später zu zahlreichen Bürgerinitiativen, aber auch zu allgemeiner und grundsätzlicher orientierten Gruppierungen, für die die Plattform „Geborene für Ungeborene" als Beispiel gelten kann.

Wenn sich Linke gegen die Abtreibung einsetzen, müssen sie oft die einfältige Frage hören, ob sie nun links oder gegen Abtreibung seien. Daß man dies überhaupt als Alternative sehen kann, hängt damit zusammen, daß sich politische Parteien (von denen man ein breiteres, in sich widerspruchsfreies, Spektrum politischer und gesellschaftlicher Zielsetzungen erwarten sollte) oft an Einzelfragen profilieren, daß man den Stellungnahmen des politischen oder weltanschaulichen Gegners ohne nachzudenken zunächst einmal widerspricht, und daß es eine große Zahl von Leuten gibt, die bereit sind, offizielle Standpunkte einer bestimmten Gruppe unkritisch zu übernehmen.

Marx und Engels haben in ihrer „Kritik des Gothaer Programms" die Vorstellung einer künftigen sozialistischen Gesellschaft so ausgedrückt, daß dann .jeder nach seinen Fähigkeiten" an den gesellschaftlichen Aufgaben mitarbeiten, aber .jedem nach seinen Bedürfnissen" ein Anteil an den Produkten gewährt werden soll.

Ein Embryo hat zwar kaum Fä-

higkeiten, um an der Produktion mitzuwirken, wohl aber Bedürfnisse. Aus der Sicht einer kapitalistischen erwerbsorientierten Ethik ist der Embryo nicht nützlich, weil er nichts leistet; nicht wertvoll, weil in ihn noch nicht viel investiert wurde; nicht berücksichtigungswürdig, weil er seine Interessen nicht selbständig artikulieren kann.

In den Schriften zur marxistischen Rechtsphilosophie wird hingegen immer wieder betont, daß sich der Mensch im allgemeinen, der klassenbewußte Arbeiter im besonderen, bei der Verfolgung seiner Interessen nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern als Gattungswesen verstehen soll. Hinter dieser abstrakten Formulierung verbirgt sich die Forderung nach Solidarität und nach der Relativierung vordergründiger egoistischer Interessen. Aus der Tatsache extremer Abhängigkeit des Embryos vom mütterlichen Organismus kann man als Linker wohl kaum ein unbeschränktes Verfügungsrecht des stärkeren Teils ableiten.

Die Aktionswoche der Plattform „Geborene für Ungeborene" hat auf der Gegenseite eine geballte Ladung von Reaktionen hervorgerufen: ultimative Aufforderungen zum Widerruf der geäußerten Meinung, gefälschte Flugblätter, persönliche Verleumdungen, Niederschreiaktionen, Gewaltanwendung. Daneben eine mimosenhafte Angerührt-heit der Abtreibungsbefürworter, die sich schon bei der Wahl bestimmter Wörter in den Diskussionen zeigte.

Aktionen der Abtreibungsbefürworter veranlaßten den sozialistischen Unterrichtsminister zu der Bemerkung, daß in dieser Art

„oft bereits Faschismus und Unterdrückung ihren Anfang" nehmen (Arbeiter-Zeitung, 15. Mai 1984).

Hervorzuheben ist, daß kein sozialistischer Politiker in der aktuellen Auseinandersetzung die Abtreibung als wünschenswerte Maßnahme bezeichnet hat; im Gegensatz zu den meist feministisch orientierten Abtreibung-Fans, die in ihren allgemeinen Stellungnahmen die Bedeutung von Klassengegensätzen herunterspielen und gesellschaftliche Konflikte mit Vorliebe als Geschlechterkonflikte darstellen.

Die Tatsache, daß die Herausnahme der Abtreibungsproblematik aus dem Strafgesetz eine alte sozialistische Forderung ist, die auch von einer sozialistischen Parlamentsmehrheit verwirklicht wurde, berechtigt nicht zur Annahme, daß Abtreibung mit sozialistischen Zielen vereinbar ist. Straffreiheit für Abtreibung wird von den Linken nicht deshalb verlangt, weil Abtreibung als wünschenswerter oder tolerierbarer Akt, sondern weil die Strafjustiz als grundsätzlich untauglich angesehen wird: Durch die Strafandrohung wurden kaum Abtreibungen verhindert, wohl aber die Probleme für die Betroffenen vervielfacht.

Die Beschlußfassung über die Fristenregelung war aus der Sicht eines Linken deshalb als unleugbarer gesellschaftlicher Fortschritt zu betrachten, weil sie den ersten — wenn auch zaghaften — Versuch darstellte, einen Teilbereich der Regulierung zwischenmenschlicher Verhaltensweisen aus dem Strafgesetz herauszubrechen und intelligenteren, zweckorientierten, wirksamen Lösungsversuchen zu öffnen.

Die Inangriffnahme bzw. Verstärkung solcher Lösungsversuche wollen „Geborene für Ungeborene" anregen. Es sollte möglich sein, einen gesellschaftlichen Zustand herzustellen, in dem werdendes menschliches Leben von niemandem als Bedrohung empfunden wird. Die marxistische Forderung .jedem nach seinen Bedürfnissen" wurde zwar für eine künftige Gesellschaft aufgestellt, aber schon heute ist es möglich, daß die Gesellschaft für die elementaren Bedürfnisse jedes Geborenen oder Ungeborenen zumindest die Ausfallshaftung übernimmt.

Der Autor ist Beamter im Bundeskanzleramt und Lektor an der Universität Wien.

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