Kampfzone Lebensränder

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Die aktuelle Sterbehilfe-Debatte könnte ein Anlass sein, Ende und Anfang des Lebens im Zusammenhang zu sehen und unsere überkommenen Sichtweisen zu hinterfragen.

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Die aktuelle Sterbehilfe-Debatte könnte ein Anlass sein, Ende und Anfang des Lebens im Zusammenhang zu sehen und unsere überkommenen Sichtweisen zu hinterfragen.

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Anfang und Ende des Lebens gehören heute der Medizin: Vor der Geburt beanspruchen wir die Pränatalmedizin, welche neben ihrer Aufgabe, die werdende Mutter samt Kind zu unterstützen, auch den Bereich der Schwangerschaftsabbrüche und die In-Vitro-Fertilisation einschließt. Am anderen Ende des Daseins versorgen wir Patienten mit lebenserhaltender Apparatemedizin und entwickeln mit großem medizinischen Aufwand die Altenund Schwerstkrankenbetreuung immer weiter. Ein "Leben Müssen" steht hier oft genug gegen ein "Sterben Dürfen".

Beiden Randzonen ist inhärent, dass sie von technokratischen Optionen geprägt sind. Diese widersprechen aber teilweise dem Wunsch nach Würde und Respekt vor dem Leben. Die medizinischen Entwicklungen ermöglichen ja nicht nur heilbringende Interventionen, sondern können genauso einer fremdbestimmten Lebensverlängerung wie auch einer aktiven Lebensverkürzung Vorschub leisten. Die Medizin gibt uns einerseits die Möglichkeit, unheilbare oder fast tote Menschen mittels Intensivmaßnahmen nahezu beliebig lange am Leben zu erhalten, andererseits kann gesundes menschliches Leben im vorgeburtlichen Stadium problemlos beendet werden.

Würde und Unantastbarkeit

Die prinzipiellen gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen in den beiden Bereichen sind ähnlich gelagert, sie müssen daher auch im gesamtheitlichen Kontext gesehen werden. Zumindest dann, wenn man die Rede von der Unantastbarkeit und der Würde des menschlichen Daseins ernst nimmt.

Zur vorgeburtlichen Randzone: Wir haben in der Pränatalmedizin in den letzten Jahrzehnten rasante Fortschritte erlebt. Die Säuglingssterblichkeit ist enorm zurückgegangen. Mit aufwendigen Mitteln wird heute Kindern auf die Welt geholfen, die noch vor zwanzig Jahren unweigerlich gestorben wären.

Gleichzeitig und im Wissen um diese Leistungen lassen wir aber auch zu, dass pro Jahr in Österreich etwa 30.000 Abtreibungen stattfinden. Es besteht hier also eine ethisch widersprüchliche Situation: Wer leben darf und wer nicht, wird in der Randzone eins per Willkür und mittels medizinischer Maßnahmen entschieden. In der Randzone zwei hingegen, also in der Alten-und Schwerstkrankenversorgung, ist die Entscheidung klar: Das Leben der Alten und Sterbenskranken gilt als prinzipiell schützenswert, Willkür ist hier nicht vorgesehen.

Freilich kommt nun durch die aktuelle Debatte über die aktive Sterbehilfe auch in der Randzone zwei neue Brisanz ins Spiel: Die Österreicher sind laut Umfragen mehrheitlich dafür, in gewissen Fällen die vorsätzliche Tötung von unheilbar Kranken gesetzlich zu gestatten.

Bewusstsein als Kriterium?

Natürlich ist eine Gegenüberstellung der beiden Randzonen schwierig, weil die Eigenschaften des frühen und des späten Lebens unterschiedlich sind. Meist wird das Vorhandensein von Bewusstsein als das grundlegende Merkmal des Mensch-Seins betrachtet. Im allgemeinen wird angenommen, dass Ungeborene vor Vollendung des dritten Schwangerschaftsmonates kein solches Bewusstsein besitzen. Allerdings werden immer wieder wissenschaftliche Hinweise entdeckt, dass Föten auch davor menschliche Empfindungen haben.

Andererseits leiden hochgradig pflegebedürftige Menschen und Todkranke oft an massiven Beeinträchtigungen des Bewusstseins, und häufig können wir überhaupt nicht mehr feststellen, wie weit etwa schwerst Demenzkranke oder Langzeit-Komatöse noch ein solches Ich-Bewusstsein besitzen. Im Grunde wissen wir also bezüglich des Bewusstseins von beiden Lebensphasen recht wenig. Trotzdem gelten die einen Menschen als prinzipiell lebensberechtigt, die anderen jedoch nicht.

Überhaupt muss man konstatieren, dass das gelebte Leben, auch wenn es nur mehr im dementen Endzustand gefristet wird, viel mehr Wert zu besitzen scheint als das ungelebte Leben vor der Geburt. Obwohl die Optionen des noch ungelebten Lebens nahezu unendlich sind und die des gelebten nahezu null, hat der Demenzkranke im Endstadium die besseren Karten. Die Entscheidung zur Abtreibung fällt nämlich offenbar viel leichter als die Entscheidung, ob ein 95-jähriger sogenannter Pflegefall friedlich sterben darf oder ob man für diesen nicht doch noch die High-Tech-Medizin in Anspruch nimmt.

Ethischer Erklärungsnotstand

Ökonomen können heute ganz nüchtern berechnen, was uns die Apparatemedizin am Ende des Lebens kostet. Wir kennen jedoch keine Zahlen darüber, welche Wertschöpfung durch die Abtreibungen gesunder Föten verloren geht. Es wäre interessant, eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung anzustellen. Wenn pro Jahr ca. 30.000 Abbrüche stattfinden, so sind das in Summe pro Generation hunderttausende Bürger, die in der Bevölkerung fehlen. Mit allen Folgen für Wirtschaftswachstum und Demografie.

Wenn es nach Ethik, Vernunft und Ökonomie ginge, müsste die solidarisch aufgebaute Gesellschaft also intensiver über Besserungsmöglichkeiten nachdenken. Die Medien sind voll von Demografie-Debatten, die ursächliche ethisch-medizinische Problematik der Bevölkerungsstruktur wird in Österreich aber kaum angesprochen. Die soeben durch die Sterbehilfe-Debatte aufmerksamer gewordene Öffentlichkeit ist aber nun sichtlich gewillt, sich mit der komplexen und facettenreichen Thematik tiefergehend zu beschäftigen.

Sicher ist schon jetzt: Wir brauchen eine neue Kultur des "Leben Dürfens" und des "Sterben Dürfens". Dabei geht es überhaupt nicht darum, die Abtreibung wieder zu verbieten und statt dessen die aktive Sterbehilfe zu erlauben, um auf diese Weise die Demografie wieder ins Lot zu bringen. Es geht vielmehr darum, die festgefahrenen Argumentarien aufzubrechen und im politischen Diskurs neue Sichtweisen zu ermöglichen. Der beschriebene aktuelle Status der Randzonen führt uns ja klar vor Augen, dass wir alle einen kräftigen soziokulturellen und ethischen Erklärungsnotstand mit uns herumschleppen.

Der Autor ist Internist und Abgeordneter zum Nationalrat (Team Stronach)

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