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Die Herausforderung

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„Unter geistiger Landesverteidigung werden alle Bemühungen verstanden, die darauf abzielen, die seelische Bereitschaft des Staatsbürgers zur Verteidigung Österreichs zu wecken, zu fördern und zu erhalten.“ So definierten im Jahre 1963 Erzieher und Soldaten, Politiker und Verbandsvertreter auf einer Enquete im Volksbildungsheim St. Wolfgang zum ersten Mal das, was man In Österreich unter Geistiger Landesverteidigung verstehen sollte. Zwei Jahre später (1965) faßte der Ministerrat, es war noch in der Koalitionsära, Beschluß darüber. Darnach „hat die Geistige Landesverteidigung vorzusorgen, daß die Bevölkerung

• im Falle einer internationalen Spannung und Konfliktsgefahr (sogenannter Krisenfall) der nervlichen Anspannung eines solchen Zustandes standhält und allenfalls erforderliche Verbrauchseinschränkungen mit Verständnis trägt;

• im Falle eines Krieges in der Nachbarschaft (sogenannter Neutralitätsfall) den vermehrten Belastungen eines solchen Zustandes gewachsen bleibt und kein Zweifel darüber gelassen wird, daß jeder Angriff auf den geschlossenen Widerstand der Bevölkerung unter Aufbietung aller Kräfte stoßen würde;

• im Falle eines militärischen Angriffes auf Österreich (sogenannter Verteidigungsfall) ihren Wehrwillen angesichts von Kampfhandlungen im eigenen Lande erhält und bekundet und der politischen und militärischen Führung volles Vertrauen entgegenbringt und deren Maßnahmen unterstützt.“

Die Geistige Landesverteidigung ist Teil einer „umfassenden Landesverteidigung“ und als deren Teil neben der' rrinltärischen," wirtschaftlichen und zivilen gedacht und wirksam. Es versteht sich von selbst, daß Geistige Landesverteidigung darüber hinaus Kern jeder Landesverteidigung ist, ein Prinzip, das in allen Teilen der Umfassenden Landesverteidigung präsent und wirksam sein muß. In der Behördenorganisation ist für die Angelegenheiten der Geistigen Landesverteidigung zunächst die Unterrichtsverwaltung kompetent, also jene Einrichtungen, zu denen in der Zweiten Republik die Aufgaben der staatsbürgerlichen Erziehung ressor- tieren. Staatsbürgerliche Erziehung und Geistige Landesverteidigung stehen in einer unauflöslichen Beziehung zueinander. Aber Geistige Landesverteidigung ist mehr als politische Bildung und Österreichkunde in der schulischen und außerschulischen Erziehung; Geistige Landesverteidigung ist ein Prinzip der Aktion, wie später im einzelnen ausgeführt werden wird.

Men Not Measures

Eine oberflächliche Betrachtung der Ziele, Methoden und Möglichkeiten läßt erkennen, daß die eben zitierten Definitionen und staatlichen Vorkehrungen mit den Realitäten im österreichischen Alltag in mehrfacher Hinsicht in Widerspruch stehen:

• Die nach Abschluß des Staatsvertrages (1955) organisierte Landesverteidigung muß mit der Tatsache rechnen, daß die erste Nachkriegsgeneration unseres Landes unter der militärischen Kontrolle der Besatzungsmächte in einem antimilitaristischen und pazifistischen Sinne erzogen worden ist; Lehrer, die es an diesem Unterrichtsprinzip missen ließen, hatten mit Disziplinierung zu rechnen.

• So wie andere lebenswichtige Aufgaben des Staates wurde und wird die Landesverteidigung in der Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat vernachlässigt. Der Wille des Konsumenten 1st stärker als der Wille zur Selbstbehauptung des Ganzen.

• Teile der Jugend von heute, also der zweiten nach 1945 heranwachsenden Generation, stellen nach Vorbildern aus den USA und aus der BRD

die Landesverteidigung als Teil der etablierten Ordnung radikal in Frage und verneinen sie.

• Der herrschende Zeitgeist der „vaterlosen, anti-autoritären Gesellschaft“ hat den in der Demokratie systembedingten Konflikt Autorität gegen Quantität auf die Spitze getrieben und in seinen verschiedenen ideologischen und politischen Ausprägungen vor allem der militärischen Autorität den Kampf angesagt. In allen Diskussionen, Polemiken und Auseinandersetzungen treten nicht nur die Vertreter dessen, was man die Neue Linke nennt, scharf und kompromißlos gegen die Landesverteidigung auf; es sind vor allem auch Träger tieferer Geistesbildung und viele Menschen von starkem, religiös-sittlichen Charakter, die die Landesverteidigung im Prinzip ablehnen und nach Möglichkeiten suchen, junge Österreicher vom Dienst in der Landesverteidigung fern zu halten. Aus diesen Einstellungen, sie sind ein weltweites Phänomen, ergeben sich Konsequenzen: In Amerika vereinigen sich Pazifisten und militärisch organisierte Revolutionäre zum Kampf. Das sind Extremfälle, die für die Lage in Österreich nicht signifikant sind; sie illustrieren aber die geistigen Zusammenhänge.

Landesverteidigung jenseits von Kommiß

Voraussetzungen der Geistigen Landesverteidigung in Österreich sind:

• Die gültige und anerkannte Selbstinterpretation dessen, was 'Österreich eine Notwendigkeit ist.

• Die Überzeugung davon, daß Österreich eine Notwendigkeit ist.

• Die Bereitschaft zur Selbstbehauptung Österreichs.

Die Selbstinterpretation Österreichs ist kein Ewigkeitswert. Die tiefen Einbrüche, die vor allem in den beiden letzten Generationen stattfanden (1914 und 1918, 1934 und 1938, 1945 und jetzt) haben die heute Siebzigjährigen, die Fünfzigjährigen, die erste Nachkriegsgeneration und die Präsenzdiener sehr verschieden geprägt; Österreich als Auftrag und als Herausforderung hat für sie eine verschiedene Valenz. Dazu kommt der rasche und oftmalige Wechsel in dem, was Heer, Landesverteidigung und Krieg sein können:

• Die Militärmacht des Großstaates Österreich-Ungarn,

• das Berufsheer der Ersten Republik,

• die Vorstellung von einer politischen Miliz im Konflikt Volksfront gegen Faschismus,

• die Deutsche Wehrmacht,

• der Antimilitarismus und Pazifismus von Amts wegen in der Besatzungszeit,

• die Landesverteidigung des neutralen Staates von 1955.

Viele Fragen, viele Infragestellungen, die sich nicht in einem gekonnten Dialogisieren erschöpfen dürfen, sondern aus existenziellen Gründen nach Entschiedenheit verlangen.

Was ist Österreich?

• Folgendes für alle und (irrtümlicherweise) für viele alles: Neutraler Staat, Republik, Demokratie, Parlamentarismus der Parteien, Föderalismus in horizontaler und vertikaler Hinsicht, Freiheitsordnung nach den Staatsgrundgesetzen.

Die Geistige Landesverteidigung reflektiert ausdrücklich auf diese Be

festigungspunkte der Existenz Österreichs, die für viele Österreicher die einzigen, jedenfalls die besten Garantien des Bestandes ihres Landes sind, solange sie sich in einer ertragbringenden Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaate exemplifizieren. Niemand wird bestreiten, daß die Berufung auf diese Werte ein Bekenntnis der Österreicher zur „freien Welt des Westens“ verständlich macht; ebenso einleuchtend ist, daß es sich hiebei nicht um einmalige Werte handelt, die geeignet sind, Österreich zu individualisieren; wem hierin Österreich genug ist, der wird diese Werte und ihre Verwirklichung auch in vielen anderen Ländern des Westens besser (oder schlechter) exemplifiziert finden und (wenn nur seine individuelle Interessenlage gilt) dort nach dem Grundsatz ubi bene ibi patria einwurzeln können.

• Anders verhält es sich in dem, was unwiederholbar und nicht tauschfähig ist, was man im technischen Sinne Staatsgebiet, Staatsvolk, spezifische, geistige und materielle Kultur des Landes nennt.

Österreich als Heimat der Österreicher ereignet sich im Schnittbereich der Alpen, der pannonischen Ebene und der europäischen Stromlandschaft der Donau (siehe „Imago Austriae“, Verlag Herder, 1963), an einem Punkt der Erdoberfläche, an dem wie an keiner zweiten Stelle, die großen, für das Schicksal eines ausgedehnten Kultur- und Kommunikationsgebietes wichtigen Räume Zusammentreffen. Der österreichische Neutralitätsgedanke entspricht dieser Funktion eines Clearing Point Als Kulturlandschaft ist dieses Land unwiederholbar. Öster

reich ereignet sich im Schnittbereich germanischer, romanischer und slawischer Welt, in unmittelbarer Nachbarschaft zur magyarischen Individualität. Die Begriffe Volk, Nation und Staat haben über diesen Wurzelboden eine andere Ausprägung gefunden als anderswo.

Österreich ereignet sich in der heutigen zweigeteilten Welt an dem einzigen Punkt, an dem die monolithischen Blöcke freiwillig zurückgewichen sind und soviel Raum gegeben haben, daß wenigstens eines der 1945 zweigeteilten Länder wieder ungeteilt, unabhängig und frei entstehen konnte. Diese „Investition in die Hoffnung auf die Zeit nach dem kalten Krieg“ ist nicht nur das Talent der Zweiten Republik; sie wird von schicksalshafter Bedeutung angesichts der siebziger Jahre, in denen offensichtlich das Schicksal Vietnams, Deutschlands und der anderen Zerrissenen auf die Waage geschichtlicher Entscheidungen gehoben werden wird.

• Österreich, das ist ein bestimmter way of life. Im Lande Raimunds und Nestroys ist dafür gesorgt, daß es keine österreichische Ausgabe eines Spätnationalismus in der Ära der unter großen Opfern angebahnten Integration Europas und der Welt wird. Hierin haben wir es mit dem ureigensten dessen zu tun, was in Ost und West von Österreich vermutet, erhofft und erwartet wird und dessen sich die jetzt lebenden Österreicher zuweilen weniger bewußt sind als ihre Freunde und Gegner in aller Welt. Das, was an dieser Lebensart wertvoll und bestandsfähig ist, muß in der Gefahr einer starren Abwehr des Neuen sowie einer hilflosen Anpassung an das Neue geschützt werden; vor Erstarrung ebenso wie "vor uferloser Überfremdung. Denn: Österreich ist kein melting pot, kein Schmeüztiegell fremder Kulturen. Hier ist von Kultur die Rede, allerdings von Kultur im weitesten Sinne, insoferne als sie alle Bereiche des menschlichen Daseins angeht. Es wäre denkbar, daß gerade in Österreich der Ausgleich des Industniesystems mit dem Bildungssystem leichter gelingt, als anderswo.

Das Bemühen im Alltag

In den Diskussionen und Polemiken, die um diese Probleme kreisen und in Gang bleiben, richten sich die Bemühungen um die Geistige Landesverteidigung auf

• eine ausreichende und unverfälschte Sachinformation über alle relevanten Probleme und

• auf der Grundlage dieser Information auf die Förderung einer richtigen Gesinnung gemäß der Zielsetzung, wie sie zuerst im Beschluß der Bundesregierung vom Jahre 1965 aufgezeigt wurde.

Diese Bemühungen erstrecken sich auf die Schulen, Hochschulen, Erwachsenenbildung und Jugendorganisationen mit einem deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Schulen; im öffentlichen Unterricht sind im Rahmen der politischen Bildung konkrete Ansatzpunkte vorhanden; der Zielparagraph des Schulorganisationsgesetzes 1962 spricht diese Ziele klar und eindeutig an.

Vergessen wir eines nicht: Geistige Landesverteidigung ist eine Aufgabe in der Bildung der öffentlichen Meinung und in der politischen Willensbildung. Wenn hier von Geistiger Landesverteidigung die Rede ist, iann ist an die Massenmedien, ins- besonders Hörfunk und Fernsehen gedacht. Geistige Landesverteidigung ist eine Herausforderung der politischen Parteien und Interessenverbände des Landes. Geistige Landesverteidigung geht den schöpferischen Menschen an. Zu all dem fehlen nicht nur Kompetenzen und Organisationen — in denen das Geistige nicht immer zu Hause ist und sein kann, sondern ein NEUER STIL EINER ÖSTERREICHISCHEN HUMANITÄT; nicht nur Intellektualismus sondern — Glaube an Österreich.

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