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Die Rebellion der Unentwickelten

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Der Brandstifter Losoncy ist ein Psychopath, und der Australier Roher, der die El-Aksa-Moschee anzündete, ist von religiösem Wahn besessen. Wie weit sind sie in ihrem maßlosen Haß, ihrem Herostratentum, ihrer geistigen Verwirrtheit von der 19jährigen arabischen Hilfslehrerin entfernt, die bereit war, das Verkehrsflugzeug Rom—Tel Aviv mit 120 Passagieren in die Luft zu sprengen? So finden sich auch in dem veröffentlichten Brief des vermutlich ehemaligen Pfeilkreuzlers Losoncy Ausdrücke wie „kapitalistische Verbrecher, hochmütige Unterdrücker, entartete Satelliten der imperialistischen Yankeemörder, ausbeuterische Juden, englische Bastarde“ — Ausdrücke, die man ebenso im Vokabular eines Black-Power- oder El- Fatah-Mannes, eines APO- oder SDS-Studenten und Mao-Jüngers finden kann. Von einem Ideologen der „neuen Revolution“, Herbert Marcuse, stammt das Wort, daß zu deren Trägern die Farbigen, die Studenten und die Insassen der Irrenhäuser bestimmt seien.

Als einem jugendlichen Oppositionellen auf einem Parteitag der deutschen Sozialdemokraten ln der Weimarer Republik die Qualifikation, mitzureden, von einem Alten abgesprochen wurde, antwortete er: „Jung sein, det jibt sich mit der Zeit

— doof, det bleibt.“ Hier wurde jugendliche Unreife noch zugege- geben, wenn auch auf ihre Abänderlichkeit hingewiesen.

Heute ist es umgekehrt, heute beziehen die jugendlichen Oppositionellen ihre Qualifikation und ihre Argumentik just aus ihrer Minderjährigkeit, übrigens ebenso wie die Unentwickelten aus ihrer Unent- wickeltheit. Wer zur älteren Generation gehört, ist bereits dadurch disqualifiziert. Entwickelte, halbwegs geordnete Länder sind neokolonialistisch, imperialistisch, kapitalistisch, auch wenn sie, wie etwa Israel, eine zu 60 Prozent genossenschaftlich und kollektivistisch organisierte Wirtschaft und Sozialstruktur und ein Parlament mit elf Parteien besitzen. So ist Realitätsfremdheit eines der Merkmale des Aufstandes der Unentwickelten, vielleicht sogar seine Hauptstärke. Bei Marcuse wird diese Realitätsfremdheit zum politischen Prinzip mit dem (aus einer hiesigen Mittelschülerzeitung hier zitierten) Satz: „Freiheit ist nur denkbar als die Realisierung dessen, was man heute noch Utopie nennt.“ Das klingt sehr schön, insbesondere in den Ohren von Mittelschülern, die tatsächlich noch keine eigene Realität besitzen können — aber nicht, weil die böse Welt sie ihnen vorenthält, sondern weil sie noch nicht erwachsen sind.

Von da zum moralischen Nihilismus, den diese Jugend wie eine Fahne stolz vor sich her trägt, ist’s nur ein Schritt. Außer den bereits erwähnten Beispielen sei nur auf den Aufstand der französischen Studenten im vergangenen Jahr hingewiesen, mit dem um einer neuen Studienordnung willen das Land nahe an einen Bürgerkrieg gebracht wurde. Faktisch waren jedoch dabei nicht der Zweck, sondern die revolutionären Mittel und ihre Handhabung die Hauptsache.

So bestürzt uns — lassen wir den Nahostkonflikt, bei dem es tatsächlich um nationale Schicksale geht, einstweilen beiseite — die Propor-

tionslosigkeit zwischen Umfang und Heftigkeit bei den Aktionen der APOs und anderen einerseits und den tatsächlichen Motiven anderseits. Die Extremismen der zwanziger und dreißiger Jahre entsprangen den sozialen Folgen einer Weltwirtschaftskrise, Dauerarbeitslosigkeit von Millionen Menschen, Ausweglosigkeit für die Jugend, welche die Landstraßen bevölkerte — aber nicht auf dem Weg zu Badestränden in der Urlaubs- und Ferienzeit, sondern auf ewig vergeblicher Suche nach Arbeit. Diese Jugend schloß sich den linken und rechten Extremismen an, weil sie verzweifelt hoffte, dadurch der zweiten Weltkriegskatastrophe ihrer Lebenszeit zu , entgehen, oder weil sie wußte, daß sie nichts zu verlieren hatte.

Es soll hier kein Loblied auf die heutige Gesellschaft gesungen werden. Sie ist, weiß Gott, voller alter und neuer sozialer und moralischer Ubelstände. Aber das ist keine Gesellschaft, durch deren gewaltsamen Sturz etwas Besseres eingetauischt werden könnte. Der Kapitalismus, gegen den die neulinke Jugend heute anrennt, ist ephem, weil durch eine Sozialstaatlichkeit Und deren Fiskal-, Steuer- und Kreditpolitik und Gesetzgebung reformiert, reglementiert und zum Absterben verurteilt. Und man hat das Gefühl, daß diese Jugend sich dessen stärker bewußt wäre, wenn man ihr nicht nur mit polizeilicher und administrativer Autorität, sondern auch mit moralischer und ideologischer begegnen würde. Es ist die eigentliche Ursache des Aufstandes der Minderjährigen, daß sie dieser Autorität entbehren.

Es ist nichts Neues, daß die Großväter und Väter dieser Zeit deshalb autoritätslos vor ihren Kindern sind, weil die Ideologien, denen sie anhingen, und die die Grundlage ihres geistigen Seins und somit auch das künftige Erbgut für ihre Kinder bildeten, dahingeschwunden sind. Diese geistige Grundlage wurde durch die gesamte Entwicklung der letzten 40 Jahre erodiert und zerrieben oder befindet sich bestenfalls in einer anhaltenden Transformation, die derzeit nur allmählich begriffliche und ideologische Fixierungen zuläßt.

Ideologisch sind diese jungen Menschen Waisen, auch wenn ihre Väter noch leben. Daher ihre Abneigung vor Präzedenzen — somit Nihilismus. Ihre selbst zurechtgeschusterten „Konzeptionen“ sind aus zweiter und dritter Hand angelesen, damit: Phrasenhaftigkeit, die nur durch Affektation und aus dieser gespeisten Aktionen ertragen werden kann.

Alldem stehen die Alten entweder (bei starker Gebundenheit ans Vergangene) böse und verstockt oder weich und nachgiebig — in jedem Fall aber weiter keine Autorität bietend

— gegenüber. Diese Jugend bedarf aber keiner Fratemisierung, sondern Paternisierung. Niemand hält es auf die Dauer aus, sein eigener Vater sein zu müssen.

Man könnte sich damit trösten, daß der Jugend trotz allen Rebellierens schließlich nichts anderes übrigbleiben wird, als sich ins Bestehende zu integrieren. Wie die ganze Lage aber ist, muß man annehmen, daß es immer Teile der Jugend geben wird, die — dann schon längst zwar biologisch, aber nicht gesellschaftlich erwachsen — sich enthalten wird.

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