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Balkanischer Kahl-Schlag

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In Belgrad erinnert man sieh noch immer eines Witzes, der 1946 — kurz vor dem Bruch mit Stalin — kursierte: „Jetzt haben wir den endgültigen Beweis dafür, daß die Erde rund ist — wir spucken immer nach Westen und die Spucke kommt aus dem Osten wieder auf uns zurück.“ Die Jugoslawen haben offenbar aus dieser Pointe gelernt. Daß dieser Lernprozeß auf die östlichen Nachbarn übergegriffen hat, ist kaum anzunehmen und im Westen scheint es ebenfalls notwendig zu sein, daraus etwas abzuleiten. Nämlich die Tatsache, daß die Jugoslawen genausowenig bestrebt sind, sich an den Rockzipfel von Mütterchen Rußland zu hängen, wie sie auch nicht damit kokettieren, einmal ein „westlicher Staat“ zu werden.

Was nun die derzeitige Entwicklung Jugoslawiens betrifft, so hat diese — nicht ohne eigene Schuld — zu vielen bewußten und unbewußten Fehlinterpretationen Anlaß gegeben. Der „Kahlschlag“, der in nahezu allen Teilrepubliken die liberalen Politiker, von der Spitze bis hinunter an die Basis, erfaßte, ließ die mancherorts schon vergessene „rote Katze des Stalinismus“ wieder aus ihrem Versteck hervorkommen. Es fanden sich sogar Kommentatoren, die diesen befürchteten Stalmismus mit einem „Ruck nach links“ in Einklang zu bringen versuchten — und damit einmal mehr den Beweis dafür lieferten, daß Schwarzweißmalerei kein taugliches Mittel für die Analyse politischer und ideologischer Vorgänge ist. Wenn in Jugoslawien ein Ruck erfolgt ist, so vorerst einmal in Richtung „law and order“.

Diese neue Marschrichtung findet im Augenblick bei der breiten Bevölkerung sicherlich mehr Anklang als bei vielen Spitzenpolitikern und Funktionären, was seine Gründe zu haben scheint. Und die Motivations-prozes.se der „breiten Basis“ finden eben mehr auf emotionaler, denn auf rationaler Ebene statt.

Solche Emotionen hat nicht zuletzt jene Ustascha-Gruppe verursacht, die im Sommer dieses Jahres unerkannt und unbehelligt bis Bosnien vordringen konnte. Die Ustaschi haben den Jugoslawen einen landeseigenen Baader-Meinhof-Effekt beschert.

Man hört heute in Jugoslawien „auf der Straße“ oft genug die Meinung, wonach die Liberalisierung der letzten Jahre dazu geführt habe, daß solche Gruppen nun ihren Terror ausüben könnten.

Das Bild einer im gewissen Sinn von „bürgerlichen“ — man könnte beinahe „kleinbürgerlichen“ sagen — Idealen motivierten Gesellschaft tut sich also von Belgrad aus auf. Eine Gesellschaft, die auf die Frage nach der Freiheit mit dem Hinweis auf die Konsummöglichkeiten antwortet (auf ihre Weise haben die Belgrader Ideologen also recht, wenn sie sagen, die Ideologie lasse sich nicht von den materiellen Gegebenheiten trennen) und alles, was man sich sonst noch unter Freiheit vorstellen könnte, erst hinter den Begriffen „Sicherheit

Umjubelter Staatschef Tito: „Law and order“ für Kleinbürger und Ordnung“ reiht. Hier beginnt sich diese Optik aber auch zu verzerren, denn eben jene Politiker, die diese Sicherheit und Ordnung angeblich gefährdet haben (wie etwa der Slowene Kavcic, die Kroaten Tripalo udn Kucar oder der Serbe Nikezic), machten durch ihre liberale Politik den derzeitigen Konsumstandard in dien genannten Republiken erst möglich.

Freilich — diese Politiker haben dabei zuerst allerdings an ihre eigenen Republiken gedacht und damit auch jene ökonomische Struktur verursacht, die heute Anlaß dazu gibt, im Zusammenhang mit dem einen Jugoslawien auch von vier oder fünf beinahe voneinander isolierten Märkten zu sprechen, was nun durch jene Bemühungen Titos, die man im Westen „Rezentralisierung“ nennt, wieder aufgehoben werden soll. Nikezic, Tripalo & Co. haben sich dadurch persönliche Positionen in der Öffentlichkeit geschaffen, die über den Grad eines Vollziehers einer nach dem Selbstverständnis Titos allein im Vordergrund zu stehen habenden Partei weit hinausgehen, und besonders Nikezic vertrat dazu auch noch ideologische Ansichten, bei denen die Dogmen des Marxismus-Leninismus manchmal ins Schlachthaus für heilige Kühe geschickt wurden. Für Marko Nikezic ist es keine Frage, daß selbst — oder vor allem — Karl Marx im jetzigen Stadium der marxistischen Entwicklung auch Gedankengut aus anderen Gesellschaftssystemen in seine Lehre einbezogen hätte.

Die eben genannten Umstände werden für Tito wohl auch die Hauptursachen zu seinem Schlag gegen die „Liberalen“ gewesen sein — ein Schlag, der aber damit nicht Titos Standort am genau entgegengesetzten Flügel festlegt. Der greise Staatspräsident sucht heute ganz einfach den sicheren Mittelweg, wofür auch der Schlag gegen den bosnischen Spitzenfunktionär Osman Karabego-vic (der wiederum den „orthodoxen Flügel“ repräsentiert) als Beweis ansehen werden kann. Tito weiß, daß die von ihm selbst nach dem Bruch mit Stalin vermutlich mehr aus Gründen der Taktik als aus jenen der inneren Überzeugung eingeleitete Liberalisierung zusammen mit den Folgen der regen ökonomischen und ideologischen Kommunikation mit dem Westen, und der unterschiedlichen Intensität des letzteren Faktors für die einzelnen Republiken, auch zu von Republik zu Republik verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen igeführt hat. Gerade diese unterschiedlichen Strukturen fördern aber die Bildung von Extremen, die Tito im Hinblick auf den Fortbestand Jugoslawiens energisch zu unterbinden versucht.

Das alles läßt aber auch jeden Zweifel darüber verschwinden,daß Tito im äußersten Notfall sein Land nicht dem Westen (wo seine gesellschaftlichen Vorstellungen nie realisiert würden), sondern dem Osten überschreiben würde, womit sein Ziel zwar mit großer Verspätung aber doch erreicht würde. Um diesen äußersten Fall jedoch nicht eintreten zu lassen, bemüht sich der Staatspräsident heute schon selbst darum, noch zu Zeiten Titos die Nach-Tito-Ära einzuleiten: Einerseits, indem er sich aus der Tagespolitik weitestgehend zurückzieht und anderseits, indem er — eben auch durch seine jüngsten Maßnahmen — seinen gesellschaftspolitischen Weg auf ideologischer und personeller Ebene zu zementieren versucht.

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