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Belgrads „delikates Dilemma

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Stämmige Polizisten verscheuchten noch spät in der Nacht die Fußgänger vom Gehsteig auf die andere Straßenseite, damit sie nur ja dem Gewerkschaftshaus, dem Schauplatz des jugoslawischen Parteikongresses, nicht zu nahe kämen. Dabei gab es da nicht einmal tagsüber Geheimnisse. Vor über hundert westlichen Journalisten sezierte sich da eine regierende kommunistische Partei bis aufs Mark. Das glich freilich mehr einer schmerzlosen Operation, bei der jeder Handgriff schon eingeübt ist und selbst das Hinscheiden des Patienten noch vom „Gelingen“ reden ließe... Immerhin das Absterben des Staates oder gar der — hier „Bund“ genannten — Partei klingt heute auch bei solchen zeremoniellen Anlässen nur von ferne an. Die Genossen des Präsidenten und Generalsekretärs Josip Broz-Tito, des Ahn-; herrn aller modernen Ketzerei im Weltkommunismus, wissen mit der Dialektik umzugehen. Sie ahnen seit sechzehn Jahren, daß die Rechnung von Marx und Lenin nicht ohne Rest aufgehen kann und daß es der un-bewältigte, bittere Rest ist, der sie unentwegt schwanken läßt, ob die Halbheit aller Reformen und Liberalisierungen im jugoslawischen System durch eine Flucht zurück — oder nach vorn zu überwinden wäre?

Es seien „die Wellen beider Extreme, die uns ununterbrochen bespülen“ , klagte der Parteiideologe Vlahovic und umschrieb sie umständlich mit „bürokratischem Voluntarismus“ und „anarchischem Liberalismus . Das Herumirren zwischen beiden Extremen nannte er lebensgefährlich für die Kommunisten. Das klang dramatisch, noch dazu, wenn man Edvard Kardelj unverblümt von steigenden Lebenshaltungskosten, Zahlungsdeflziten und davon reden hörte, daß 40 Prozent der Bevölkerung unter „unerträglichen materiellen Beschränkungen“ leben.

Doch nicht einmal ein Hauch von Dramatik, nichts von spontaner Erregung oder Leidenschaft lag über dem Kongreßsaal; nicht einmal das blumige Pathos, das anderswo zum Ritual solcher Parteikongresse gehört, war zu vernehmen. Hurtig und im ruhigen Geschäftston eines Vereinskassenwarts las Redner um Redner, auch Tito selbst, seinen Text vom Blatt, ohne auch nur einmal aufzublicken. Kaum ein Zwischenapplaus durchbrach das Einerlei, nur in regelmäßigen Abständen ging ein Rascheln durch: die Versammlung: Wenn der Redner sein Manuskript umblätterte — und mit ihm alle Delegierten, die es gedruckt schon vor sich liegen hatten und gesenkten Hauptes mitlasen. Wie eine Klasse von Musterschülern ... Durchsichtig und dezent prangten die Köpfe der marxistischen Erzväter neben dem kleinen, stilisierten roten Stern auf der Bühne, die sonst in seidig glänzendem Grau gehalten war. Nichts schien diesen Rahmen zu sprengen. Und wenn am Abend die gutgekleideten Herren in langen Mercedeskarawanen jenen Luxushotels zustrebten, die Belgrad der Dollarhilfe verdankt, so schien sie nichts anzufechten, nicht einmal die Bauchtänzerinnen der Metropol-Bar, die den Sommer über in westlichen Striptease-Lokalen Devisen verdienen durften — für sich und für Titos Valutakasse.

Marktgesetze“ vertrauen, er möchte eine Preiskontrolle, die nur auf gleiche Wettbewerbschancen achtet und „keine Angelegenheit polizeilicher Natur ist .

Sehr viel Konkretes hörte man dazu nicht. Anders als in Ost-Berlin, Prag, Budapest und Warschau, wo man sehr viel später oder erst jetzt den Weg der wirtschaftlichen Vernunft einschlug, sind die Jugoslawen durch Erfahrung gewitzigt. Sie kennen die Tücken des Mischsystems, der Experimente. So hielt man sich in Belgrad wie schon oft, mehr ans Allgemeine: Man müsse „das Einkommen immer freier und selbständiger schaffen“ , sprach Tito. Man dürfe nie vergessen, daß der Mensch arbeite, um die Früchte seiner Arbeit zu genießen, und „nicht, um die irgend jemandes Ideen zu verwirklichen“ , bemerkte Kardelj weise, um reinen Wein (mit Wasser) einzuschenken: „Allgemein gültige Rezepte ... gibt es jedenfalls nicht. Wir dürfen uns also keinen Illusionen hingeben, daß die Widersprüche im neuen System verschwinden ... Der Bund der Kommunisten drängt kein Muster einer idealen sozialistischen Gesellschaft auf, legt keine Dogmen und keine technokratischen Konstruktionen fest.

Wie aber kann da die Partei ihr Führungsmonopol ausüben? Diese Frage stand, meist unausgesprochen, hinter allen Kongreßreden. Ranko-vic, den man Titos „linke Hand“ nennen könnte, gab zu, das Problem sei „gegenwärtig äußerst delikat . Er steuerte zur Antwort aber auch nicht viel mehr bei als allgemeine, verschwommene Postulate. Tatsächlich ist der Anteil der jungen Leute unter 25 Jahren an der Parteimitgliedschaft in den letzten sechs Jahren von 23,6 auf 13,6 Prozent gefallen. Der Belgrader Soziologe Professor Markowic sprach kürzlich von der „besonderen Form von Heuchelei“ , die dadurch erzeugt werde, daß die Menschen auf der einen Seite immer stärker auf ihre persönlichen Interessen, besonders ihre materiellen, hingewiesen und in den Mechanismus einer Marktwirtschaft einbezogen werden, anderseits jedoch die Partei auf „sozialistischem Bewußtsein“ besteht. Am Tage vor der Kongreßeröffnung beschrieb das der slowenische Parteiideologe Kavcic so: „Wir haben das Lied anstimmen

lassen, doch jetzt, da die Zeit kommt, den Pfeifer zu zahlen, schauen wir umher und fragen: was soll denn das! ?“ Das Dilemma des Tito-Modells, das hier zum Vorschein kommt, mindert freilich kaum seine Anziehungskraft, die es auch heute im Weltkommunismus vielfältig geltend macht. So fragwürdig seine Perspektiven — aus ideologischer Sicht — sein mögen, als Muster eines Durchbruchs durch Dogmen verdient es schon deshalb westliche Stützung. Ohne sie könnte Tito nicht einmal auf halbem Wege stehenbleiben, sondern müßte einen Rückzug antreten, den letzten Endes der Westen zu bezahlen hätte — ohne etwas zu gewinnen.

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