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Ein Mann aus Kumrovec …

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„Ich wurde all Josip Broz im Mai 1892 in dem kroatischen Dorf Kumrovec geboren, das in einem Bezirk liegt, der Zagorje genannt wird ..Mit diesen Worten beginnt die autorisierte Biographie Marschall Titos, die sein Kampfgefährte Vladimir Dedijer geschrieben hat und die 1953 bei Ullstein in deutscher Uebersetzung erschienen ist. Es steht vieles über Titos Leben und Herkunft darin, ebensovieles nicht, Weiße Flecken und Widersprüche fallen dem Leser kaum auf. Ein kroatischer Landsmann Titos, der diesen und seine Heimat kennt, hat in mühevoller Kleinarbeit eine Anzahl solcher Flecke entdeckt, die man nicht übersehen kann. Die Redaktion

1948 besuchte ich Kumrovec, ein typisches kroatisches Bauerndorf: ein Bauer, Kraljic, zeigte uns alle „Sehenswürdigkeiten” — auch das Haus, in dem der Marschall geboren wurde. (Es hatte tatsächlich 1892 der Familie Broz gehört — dieser Familie wurde auch, laut Kirchenregister, im Mai 1892 ein Sohn Josip geboren.)

Im großen Zimmer, ebenerdig, war eine große Maismühle, wie sie die kroatischen Bauern benützen, und Kraljic sagte: „Auf der hat der kleine Tito Mais mahlen müssen… er war damals knapp zehn Jahre alt. . . es war urkomisch, zu sehen, wie sich der arme, kleine Kerl damit abgeplagt hat… Was wir gelacht haben . ..” „Sie auch, Herr Kraljic?”

„Warum nicht… ? Ich und alle anderen Eine Stunde später, als wir im Gasthaus saßen, fragte ich ihn unvermittelt, wann er geboren sei. „1 9 0 7”, entgegnete er, ohne zu denken.

Ehe ich Kumrovec verließ, sprach ich mit drei alten Bauern. Sie bestätigten, daß Josip Broz, als er das Dorf verließ, noch jung war — sechzehn, höchstens siebzehn. „Er war Soldat und soll später in Rußland gewesen sein. Als Kriegsgefangener.. .”

„Wann habt ihr ihn dann wiedergesehen?” „Ende 1945 … da war er schon Märschall.”

„Und vorher war er niemals in Kumrovec gewesen? Vor dem zweiten Krieg?”

„Nein — gewiß nicht. Kumrovec ist klein — wir hätten es wissen müssen…”

Auf weitere Fragen gaben sie keine Antwort. Als ich am Abend nach Agram zurückfuhr, beschäftigten mich zwei Fragen:

Die komische Szene, von der Kraljic berichtete, spielte sich 1902 ab; angenommen, Kraljic konnte sich nicht genau erinnern, so konnte sie sich auch 1903 oder 1905 abgespielt haben. A,b, x K r 4 j i č w u.td e,- ,rst-1 9 0 7

‘ber’diesist nidht so”wielfrig’ — auffallender ist, daß Tito mit 16 Jahren Kumrovec verlassen und es erst 1945, im Alter von 53 Jahren, nach 37jähriger Abwesenheit besucht haben soll. Wenn es wahr ist — und Dedijer behauptet es —, daß Tito Mitte der zwanziger Jahre aus Rußland nach Kroatien zurückkehrte, nahezu zwölf lange Jahre in Agram bei seinem Freund Ve- lebit wohnte, zahllose Ausflüge in die Umgebung machte — und niemals nach Kumrovec ging —, so ist das seltsam. Es widerspricht vollkommen dem Charakter der kroatischen Bauern, 2udem lebten damals in Kumrovec zwei Brüder des Josip Broz und zahlreiche Verwandte, die ihn sehnsüchtig erwarteten, um so mehr, als Heimkehrer schon 1918 berichtet hatten, Josip Broz sei 1916 gefallen. Warum mied der Bauernsohn Josip Broz sein Heimatdorf? 1949 geriet ich zufällig in eine Menschenmenge, die einigen Rednern der KP Kroatiens zuhörten. Da ich eingekeilt war, konnte ich die Redner nicht sehen, wohl aber gut hören. Als ich kam, sprach gerade einer, der die kroatische Sprache gut beherrschte- — aber einen starken ukrainisch-polnischen Akzent hatte. Er sprach so wie die zaristischen Russen, die nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Jugoslawien fließend Kroatisch sprachen, aber mit dem weichen russischen Akzent. Ich fragte meinen Nachbarn, welcher Russe eben spräche, und hörte, es sei der Marschall. Ich habe später oft Gelegenheit gehabt, ihn zu hören, einmal bei einem Empfang. Wenn er lebhaft spricht, fehlen ihm oft Worte .. . manchmal gebraucht er für das fehlende Wort ein russisches, gewöhnlich aber flüstert ihm einer der neben ihm stehenden Funktionäre das Wort zu.

Parteimitglieder geben zu, daß Tito mit russischem Akzent Kroatisch spricht, aber sie feinen, das komme von seinem langen Rußlandaufenthalt. Nach Dedijer kam Tito vierundzwanzig- jährig in russische Kriegsgefangenschaft, mit dreißig wieder nach Kroatien - er war also knapp sechs Jahre in Rußland. Ich habe jugoslawische Bauern getroffen, die dreißig und mehr Jahre in Australien oder Rußland gelebt hatten: alle sprachen fließend ihre Muttersprache - ohne fremden Akzent…

Ende 1949 lernte ich einen nahen Verwandten des ehemaligen kroatischen Kommunistenführers Gorkič kennen, der Tito Ende 1933 erstmalig gesehen hatte „Wir hatten”, sagte er. „unsere wöchentliche Versammlung in der Wohnung eines Genossen am Pantovcak in Agram

Nach der Versammlung sagte uns mein Onkel Gorkič, damals 1. Sekretär des ZK.s, daß aus Moskau ein Genosse gekommen sei. Am nächsten Tag lernten wir dann Tito kennen.”

Ich fragte: „Ist Marschall Tito der gleiche Mann, den Sie 1933 sahen?”

„Ach so, Sie meinen, wie so viele, daß der richtige Tito bei Drvar fiel und ein Russe seine Stelle einnahm? Das sind Märchen. Der damalige Tito und der heutige Tito sind dieselbe Person.” Er lachte. „Damals war er etwas schüchtern . “

„Tito und schüchtern?”

„Ja — aber das hatte seinen Grund — er kämpfte mit der Sprache, und bei Sitzungen hatten wir stets einen Dolmetsch. Er brauchte zwei Jahre, um unsere Sprache zu erlernen…”

Da Tito auch heute noch mit ziemlich starkem ukrainisch-polnischen Akzent kroatisch spricht, kann man schließen, daß er mehr polnisch oder ukrainisch als kroatisch sprach. Berücksichtigt man noch den Bericht des Neffen Gorkič’, muß man annchmen, daß Tito erst in reiferen Jahren Kroatisch erlernt hat — ob Ukrainisch oder Polnisch seine Muttersprache ist — mag vorläufig dahingestellt bleiben.

Man versteht nun, warum er vor dem Kriege niemals nach Kumrovec ging. Da er die „Muttersprache” nur notdürftig beherrschte, hätte ihm jeder Bauer ins Gesicht gelacht, wenn er behauptet hätte, er sei aus Kumrovec. Daß heute niemand mehr darüber lacht — dafür hat die Geheimpolizei vorgesorgt.

Auch Gorkič, ehemaliger 1. Sekretär der KP Kroatiens (der später auf ausdrücklichen Wunsch Titos in Moskau hingerichtet wurde), bezeich- nete Tito immer als Russen. Wurde er böse, sagte er etwas vom „Lakai Stalins”, der die Kroaten belehren möchte. In einer der letzten Versammlungen der KP Kroatiens, die in einem aufgelassenen Magazin der Lederfabrik ini Agram startfand,’ sagtie’ -Gorkič:- „ . wozu brabchfenn wir einen Major der Roten Armee? Wir wissen selbst, was wir zu tun haben.”

Bela Kun, der mit Gorkič und anderen Kroaten im Kominternbüro arbeitete, machte einmal den Scherz: „Wie groß ist doch Stalins Macht, daß er aus einem russischen Burschuj einen kroatischen Bauern machen kann.” (Aus einem Brief Gorkič’ an seinen Neffen.) Uebri- gens muß auch Präsident Pieck wissen, wer Tito ist, da er mit ihm monatelang im Kominternbüro arbeitete.

In einer 1936 oder 1937 herausgegebenen lithographierten „Kurzen Geschichte der KP Kroatiens” fand ich den Satz: „… Genosse Gorkič war bei allem guten Willen zu schwach,

um die Partei zusammenzuhalten — es bildeten sich Fraktionen… um den sich immer mehr ausbreitenden Trotzkismus zu liquidieren, sandte Stalin den Genossen Broz-Tito nach Agram…”

Warum Tito nach seiner Ankunft in Agram als Kroate auftrat, hat ebenfalls seinen Grund. Die einzige KP, die in Jugoslawien bestand, war die kroatische. Hätte man ihr einen Slowenen oder gar Serben als Chef aufgezwungen, wäre sie zerfallen, da der Kampf der Kroaten gegen Serbien damals am Höhepunkt war. Gegen einen Bauernsohn aus Kumrovec konnte man kdne Einwendungen erheben.

Es gibt da noch eine Version, wie Tito Kroate wurde. Sie stammt von Hebrang, der einige Monate die kroatische Partei führte.

Nach Hebrang ist Tito ein ukrainische Abenteurer, der 1914 in die, auf seiten der Donaumonarchie gegen Rußland kämpfende polnisch-ukrainische Legion eintrat. Während des Feldzuges in den Karpaten kämpfte die Legion im Verband des 13. Agramer Korps — in der gleichen Brigade wie das Agramer Hausregiment. Nach schweren Kämpfen wurde die Brigade abgedrängt und von den Russen umzingelt … Da jeder Widerstand vergeblich war,

entschloß sich der Brigadier zur Uebergabe. Die im Verband der Brigade kämpfenden Legionäre wußten, daß die Russen sie als Landesverräter erschießen würden — sie zogen die Uniformen der gefallen Kroaten an. nahmen ihre Legitimationskapseln, bekleideten die Toten mit ihren Uniformen und fuhren als österreichisch-unga- tische Soldaten in die Kriegsgefangenschaft. Da Tito zufällig die Uniform und die Legitimation des tatsächlich gefallenen Korporals Josip Broz raus Kumrovec erwischte, verwandelte er sich in diesen .. . Die Kroaten verrieten die Legionäre nicht und die Russen wußten nichts von der Wandlung. (Diese Version könnte übrigens an Hand der noch vorhandenen Gefechtsberichte des 13 k. u. k. Korps im Wiener Kriegsarchiv nachgeprüft werden.)

Es seien noch zwei interessante Fakten angeführt: Offiziell hat Tito zwei Brüder — der eine soll in Prag leben, der andere in Agram. Durch Vermittlung des damaligen Leiters des Großhandelsunternehmens NA-MA in Agram, lernte ich den Agramer Bruder Titos kennen. Er war 1898 in Kumrovec geboren, und zwar von den gleichen Eltern, die auch Tito anerkannte. Der Mann hatte keinen Beruf, lebte in einer luxuriösen Wohnung im Agramer Stadtteil Trėšnjevka und war leidenschaftlicher Motorradfahrer. Obwohl Tito damals elfmal in Agram war, besuchte er nachweisbar niemals seinen „Bruder” noch dieser ihn. In der Nachbarschaft sagte man, er beziehe eine hohe Rente. Als ich ihn eines Abends im Agramer „Gradski Podrum” traf, war er ziemlich angetrunken. Einer seiner Freunde machte die launige Bemerkung, er müsse seinem Bruder stark auf der Tasche liegen, worauf Ivo Broz (das war sein richtiger Name) lachend erwiderte: „Bruder, sagst du? Von mir aus Bruder… aber wer die Ehre genießen will, der Familie Broz anzugehören, muß dafür bezahlen.”

Tito hat auch aus seiner ersten Ehe mit einer Russin einen Sohn. Zarko, der seit 1948 ständig in Belgrad lebt und sehr bekannt ist. Er wohnt nicht beim Vater, sondern in einer eleganten Stadtwohnung, ist unbeschäftigt, trinkt und prügelt sich gerne Während des Krieges kämpfte er als russischer Offizier unter Marschall Tolbuchin und verlor einen Arm.

Bei einem Zechgelage im „Majestic” sagte ihm ein befreundeter Redakteur: „Du säufst wie in Serbe…”, worauf Zarko wütend seinen russischen Paß auf den Tisch warf underbost erwiderte: „Was, Serbe — ich bin kein Serbe — ich bin Russe — Russe von russischen Eltern ..

Weitere Indiskretionen zu Titos Herkunft bedingen nach dem Bruch mit dem Kreml, 1948, die Radiostationen Tirana, Bukarest und Moskau. Budapest und Prag begnügten sich mit der Feststellung, daß Tito und sein Zentralkomitee eine Gangsterbande seien … Lumpen … Gauner … Betrüger usw. Tirana stellte zuerst die spitze Frage: „Woher kommt denn dieser Gesinnungslump, der sich dem jugoslawischen Volk aufgedrängt hat?” — und, da nun das Eis gebrochen war, packten die anderen aus. Radio Bukarest erzählte den Völkern Jugoslawiens, daß sie einem „betrunkenen, landfremden Ukrainer” aufgesessen seien, und Moskau fügte weitere pikante Details hinzu: „ … dieser halbjüdische Burschuj aus Odessa, dessen Vater als Fellhändler die Leute betrog… dieser Abenteurer, der sieben Pässe hat…”.

Stalin verstand es niemals, eine Uniform zu tragen, und in Gesellschaft war er linkisch und unbeholfen. Weder Molotow noch Kaga- nowitsch, Mikojan oder Malenkow, nicht zuletzt Chruschtschow, vermögen ihre Abstammung zu verleugnen … Der Serbe Rankovič fühlt sich ungemütlich, wenn er öffentlich auf- tritt, selbst Djilas und Kardelj sind nicht parkettsicher.

Tito ist Bauernsohn. Er war offiziell Schlosser und Eisendreher; er hat — wieder offiziell — nur vier Klassen Volksschule besucht. Alle seine Freunde und Genossen betonen sein Luxusbedürfnis, seine Unterhaltungsgabe, sein freies Auftreten und seine Eleganz. „Selbst in Wien, und später in Paris”, schreibt Dedijer, „fiel Tito vor dem Kriege durch seine Eleganz auf..

Er hat nicht das Auftreten eines emporgekommenen Bauern oder Arbeiters und benimmt sich wie ein Mann mit gutbürgerlicher Kinderstube. Er spielt gut Klavier, spricht ausgezeichnet deutsch (!), gut englisch, und versteht es, Gäste zu empfangen. Es sind winzige, psychologisch aber interessante Kleinigkeiten, die auf fallen: Als Haile Selassie nach Belgrad kam, empfing ihn der „Bauernsohn” Tito mit einer Grandezza, die selbst den Diplomaten in die Augen fiel — während die anderen ihre Abstammung nicht verleugnen konnten. Sie erstarrten vor Ehrfurcht, stammelten abgerissene Worte und warfen Tito scheue Blicke zu, der sie, ironisch lächelnd seinem „kaiserlichen Bruder” vorstellte. Als Chruschtschow kam, war es anders. Der ukrainische Bauer fand Anklang bei seinen Gesinnungsgenossen, sie tauten auf, und der Empfang war herzlicher, als er politisch geplant war. Nur Tito erstarrte; er benahm sich genau so, wie sich etwa Metternich beim Empfang einer überlauten Leibeigenendeputation benommen hätte. Seine Abstammung und seine Erziehung revoltierten … Welche? Die des Kleinbauern aus Kumrovec oder die des armen Eisendrehers?

Watson-Dedijer erwähnt viele Details aus dem Leben seines Meisters: Er soll in Ogulin in einem groß aufgemachten Prozeß zu sieben Jahren Kerker verurteilt worden sein. Der damalige Bezirkshauptmann weiß nichts von diesem Prozeß, auch der damalige Gerichtsvorsitzende wußte nichts davon und — das Gericht ist’ab- gebrannt und alle Akten wurden vernichtet. Tito soll in einer Mühle gearbeitet haben — aber die Mühle ist abgebrannt und die damaligen Besitzer sind tot.

George Bilainkin, ein englischer Reporter, der von Tito empfangen und mit einem signierten Bild beschenkt wurde, durchfuhr ganz Jugoslawien, um irgendeinen greifbaren Beweis für das „Vorleben” des Marschalls zu finden — er fand nichts, da der Krieg gerade dort am „heftigsten gewütet” hatte, wo man schriftliche Beweise hätte finden können. Er fuhr auch in die Strafanstalt Mitrovica und wollte die Zelle sehen, in der Tito sieben Jahre eingelocht war. Der Gefängnisdirektor erklärte dem Engländer, er habe nicht das Recht, Fremden die Zelle zu zeigen. „Schön”, entgegnete Bilainkin, „dann lassen Sie mich wenigstens einen Blick in Ihre Bücher werfen; wenn einer sieben Jahre sitzt, muß doch sein Name irgendwo vermerkt sein.”

„Wenden Sie sich an das Ministerium des Innern in Belgrad”, sagte der Beamte kühl, ließ Bilainkin stehen. Als er in Belgrad beim Innenministerium vorsprach, wurde ihm erklärt, als Engländer könne er alle Akten einsehen — leider sei aber der Ressortbeamte auf Krankenurlaub, usw.

So bleibt die Frage offen: Wer ist Josip Broz, genannt Tito? Wer ist der Mann, der 1933 aus dem Dunkel seiner Vergangenheit auftauchte und es zuwege brachte, die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zu ziehen?

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