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Tito mit dem Lenin-Orden
Niemand weiß, was der eben 80jährige Staats- und Parteichef Jugoslawiens gedacht hat, als Rußlands neue Zaren ihn, den Ketzer, brüderlich küßten und sichtbarlich ehrten. Die Kommentatoren im Westen sprachen mindestens von einer Annährung, vielfach sogar von einer endgültigen Aussöhnung, gewissermaßen von der Heimkehr des verlorenen Sohnes. Und wirklich: Wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, mit welchem Aufwand Tito in Moskau begrüßt und bewirtet worden ist, dann muß man beinahe geneigt sein, das ganze Theater für bare Wirklichkeit zu nehmen.
Doch nur: beinahe. Denn welchen Grund sollte Tito haben, einen Frieden zu schließen, der faktisch nichts anderes wäre als Kapitulation? Will man ernsthaft glauben, der raffinierte Taktierer sei müde geworden? Oder etwa, die innerstaatlichen Schwierigkeiten seien ihm über den Kopf gewachsen? Die Indizien sprechen durchaus nicht dafür, sondern eher dagegen, denn gerade in den letzten Jahren, genauer seit der Ostblockinvasion in die CSSR, hat Tito zahlreiche Maßnahmen gesetzt, die ihm geeignet erschienen, die nationale Souveränität seines Staates und den eigenen Weg seiner Partei auch über seinen Tod hinaus zu garantieren: Vom Aufbau einer (im Westen schlechthin unvorstellbaren) totalen Landesverteidigung bis zur optimalen Regelung seiner Nachfolge.
Man hat, als das Ereignis noch ganz nahe war, den komischen Fehler gemacht, das Moskauer Treffen gewissermaßen nur aus der Perspektive Titos zu sehen und zu deuten, anstatt sich zu fragen, warum denn die Russen so exzessiv gastfreundlich waren. Von diesem Aspekt her nämlich löst sich das Rätsel ganz wie von selbst:
Die Russen wissen so gut wie Tito, daß dieser — wie einstmals der Kaiser Franz Joseph für Österreich-Ungarn — die Staatsidee verkörpert, ja mehr noch: zusammen mit der auf ihn eingeschworenen Armee der Staat selber ist. Einen Tito zu stürzen ist also etwas sehr anderes, als einen Husak zu eliminieren. Geduldig, wie die Russen auch als Politiker sind, spekulieren sie deshalb auf die Zeit nach Titos Tod. Sie spekulieren darauf, daß jedwede Nachfolge, sei das nun eine Person oder ein Gremium, naturnotwendig schwächer ist als der jetzt noch thronende Mythos; und daß diese Nachfolge um so schwächer auch ausieht, je stärker Titos Größe jetzt strahlt. Und deshalb polieren die Russen jetzt an dem Standbild des Erzfeinds: um dann um so plausibler den Nachfolger, wer das auch sei, seiner Schwäche zeihen, ja ihn des Verrats an dem großen Vorbild bezichtigen zu können. Indem sie Tito den Leninorden an die Heldenbrust heften, schaffen sie die Voraussetzung dafür, nach ihm, aber unter Berufung auf ihn, den Völkern Jugoslawiens ihre „brüderliche Hilfe“ leisten zu können. Die Aufwertung Titos bedeutet also nichts anderes als die vorsorgliche Desavouierung seiner Nachfolger.
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