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„Jugoslawiens Franz Joseph“

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Nach Jahren im Schaukelidyll zwischen West und Ost wachsen neuerdings Jugoslawiens wirtschaftliche Schwierigkeiten. Währungsabwertung, galoppierende Preise, schrumpfende Devisen scheuchen die Gegner des Marschallsregimes auf (FURCHE, Nr. 48). Dazu kommen außerpolitische Dissonanzen. Über Nacht ist der aufs Eis gelegte Konflikt um Triest wieder aufgeflammt. Tito sagte seinen Staatsbesuch in Rom ab. Hinter allem aber steht die labile Nationalitätenfrage im größten Rnlkanstaat.

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Nach Jahren im Schaukelidyll zwischen West und Ost wachsen neuerdings Jugoslawiens wirtschaftliche Schwierigkeiten. Währungsabwertung, galoppierende Preise, schrumpfende Devisen scheuchen die Gegner des Marschallsregimes auf (FURCHE, Nr. 48). Dazu kommen außerpolitische Dissonanzen. Über Nacht ist der aufs Eis gelegte Konflikt um Triest wieder aufgeflammt. Tito sagte seinen Staatsbesuch in Rom ab. Hinter allem aber steht die labile Nationalitätenfrage im größten Rnlkanstaat.

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Wie sich die Bilder gleichen: Fast ein Dutzend verschiedener Nationalitäten und Minderheiten, mit Urfeindschaften im zentralen Bereich und mit Autonomiewünschen und Separationsbestrebungen an den Rändern; eine zwar dominierende, aber durch die Schrift in sich geteilte Staatssprache neben zwei andern de jure gleichrangigen, de facto aber unterdrückten; quer durch die Nationalitäten die Trennlinien zwischen mehreren Religionen; politische Divergenzen nicht nur zwischen Staatspartei und Volk, sondern mehr noch innerhalb der Staatspartei selbst; und überdies ein kaum vergleichbares wirtschaftliches und soziales Nord-Süd-Gefälle. Und das Ganze eingeklemmt zwischen rivalisierende Blöcke, von außen bedroht, aber ohne verläßlichen nachbarlichen Rückhalt: zusammengehalten nur von einer Vater-flgur und der auf diese Figur vereidigten Armee. Das sieht fast aus wie das Österreich-Ungarn Kaiser Franz Josephs, ist aber das Jugoslawien Titos.

Der Marschall, einst Unteroffizier in jenes Kaisers Armee, hat aus dem Untergang der Monarchie die Lehren gezogen. Er, dem die Zufälligkeit seines Geburtsorts genau auf dem slowenisch-kroatischen Grenzstreifen das Handikap ersparte, unbestreitbar nur einer der vielen in diesem Vielvölkerstaat vereinigten Gruppen anzugehören, er also spürt genau die inneren Rivalitäten auf ethnischer, kultureller, religiöser, politischer und ökonomischer Ebene, die divergierenden Interessen, die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der Grenzen seines Reiches. Und nicht erst seit dem 21. August 1968 weiß er, daß die Sowjetunion mit russischer Geduld auf seinen, Titos, Tod wartet, um in den darauffolgenden inneren Wirren den „rechtgläubig“ gebliebenen Untertanen des „Ketzers“ ihre „brüderliche Hilfe“ leisten zu dürfen. Tito weiß, daß er sterben wird, und er weiß, daß er nicht sterben darf — zumindest nicht so, wie sein einstiger Kaiser gestorben ist. Und deshalb hat Tito in den letzten Jahren mehr getan, als menschenmöglich schien: Er hat Frieden geschlossen mit den Kirchen, er hat das Heer ins Volk integriert, er hat nicht nur gegenüber Italien und Österreich, sondern auch gegenüber Albanien das Gemeinsame über das Trennende gestellt; und er hat nicht eine (natürlich national vorbelastete) Person, sondern ein (zumindest in der Idee) übernationales Präsidium in seine Nachfolge eingesetzt, und er hat jüngst, statt an seines ägyptischen Freundes Grab zu trauern, vom amerikanischen Präsidenten sich versichern lassen, daß die USA die Breschnjew-Doktrin grundsätzlich ablehnen. Mit all seiner Politik sucht Tito den Ersatz für etwas, das es nur im Original und nicht auch ersatzweise gibt. Die noch so ausgeklügelte, jeder negativen Eventualität vorbeugende Konstruktion kann nicht gleichwertig an die Stelle eines Mythos treten: an die Stelle von etwas, das man zwar vielleicht nicht versteht, an das man aber glaubt, dem man vertraut, für das sich zu opfern man beredt ist. Der vergleichsweise junge Tito weiß offenbar etwas noch nicht, das der vergleichsweise alte Franz Joseph gewußt hat: daß die Person ein besserer Gairant der Staateform und der Gesellschaftsordnung ist als jede Verfassung. Oder: er weiß es; und tut nur, Im Gegensatz zu dem profunden Skeptiker Franz Joseph, so, als wüßte er's nicht. Die Logik der Dinge freüich wird vom Bewußtsein persönlicher Tragik nicht beeinflußt.

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