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Mit Marx und Murks zum Selbstverwaltungsmodell

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In Kragujevac, dem Zentrum der serbischen Pkw-Industrie, versammelten sich kürzlich beim zehnten Zusammentreffen jugoslawischer „Selbstverwalter“ (Vertreter der selbstverwalteten Betriebe) über tausend Delegierte und Gäste aus allen jugoslawischen Teilrepubliken und autonomen Provinzen. Mit dabei waren auch Edvard Kardelj, slowenischer Parteitheoretiker und Begründer der Selbstverwaltung, sowie Dr. Vladimir Bakaric, marxistischer Chefideologe aus Kroatien. Kernpunkte der Diskussion waren Fragen des Gewinnes in den jugoslawischen Betrieben und seiner Verteüung auf Löhne und Investitionen. Denn die daraus resultierenden Probleme konnte die jugoslawische Selbstverwaltung bisher noch nicht ganz mit der allgemein marxistisch-leninistischen Theorie über die sozialistische Gesellschaftsentwicklung in Einklang bringen.

„Viel besser lösen wir dieses Problem in der Praxis als in der Theorie“, meinte Dr. Bakaric, während Edvard Kardelj feststellte: „Die bisherigen Erfahrungen zeigen, daß dieses Problem noch offen steht.“ Einige starr dogmatisch sozialistische beziehungsweise kommunistische Grundsätze hat die jugoslawische Selbstverwaltung trotzdem überwinden können. Da die Marxsche Theorie nur die eingesetzte „lebendige“ Arbeit der Werktätigen als Mehrwertschöpfung anerkennt, ohne die Einwirkung der Technologie zu berücksichtigen, bezeichnet man in Jugoslawien die Technologie als „vergangene Arbeit“, die an der Mehrwertschöpfung ihren Anteil habe. Und Edvard Kardelj betont, daß der Lohn zukünftig noch mehr vom Wirtschaften mit dieser „vergangenen Arbeit“ abhängen wird.

Bei der Selbstverwaltung handelt es sich um die Einführung des Marktmechanismus in die sozialistische Wirtschaft, die im Vergleich zu den übrigen kommunistischen Staaten nicht mehr zentral geplant und gelenkt werden soll. Konkret: Die Unternehmerkompetenzen sollen an die Arbeiter selbst übertragen werden, Arbeiter treten kollektiv als Unternehmer auf, sind am Gewinn beteiligt und müssen auch eventuelle Verluste des Betriebes selbst tragen.

Durch unterschiedliche Geschäftserfolge der Unternehmen gibt es jedoch auch unterschiedliche Arbeitslöhne, was offensichtlich dem sozialistischen Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widerspricht. Folge: Es kommt zur Ungleichheit der Betriebe untereinander.

Die Ungleichheit der Betriebe und somit der Arbeiter ergibt sich aber auch aus der unterschiedlichen Investitionspolitik des Staates. In Jugoslawien regulierte man bis in die sechziger Jahre die Verteilung der staatlichen Investitionen an die Betriebe mit Hilfe der Grundkapitalszinsen im Betrieb. Da die schlecht wirtschaftenden Betriebe höhere Zinsen an die Gemeinschaft (den Staat) abzuführen hatten, wurden die Verlustspannen noch größer. Nach der Abschaffung der Kapitalszinsen gab es aber für die Investitionsverteilung keinen Maßstab mehr. Das Staatskapital wurde zumeist von Großbanken und Re-Exportfirmen der jugoslawischen Hauptstadt übernommen und in Form von Krediten unter rücksichtslosen Bedingungen an die Unternehmen abgegeben, was Anfang der siebziger Jahre zu großen Spannungen zwischen der Metropole und den Teilrepubliken, besonders Kroatien, führte.

Verschiedene Handhabungen der Selbstverwaltungstheorie und -praxis vergrößerten zudem die Unterschiede in der Technologie und erlaubten eine erfolgreichere Leitung der einzelnen Betriebe, die dadurch gegenüber anderen größere Produktivität und auf dem Markt dementsprechend höhere Gewinne erzielten. Was Wunder, wenn Edvard Kardelj deshalb in einer neueren Studie über die Gegensätzlichkeiten im Gemeinschaftseigentum in der heutigen sozialistischen Praxis feststellt: Der sozialistische Grundsatz „Jedem im Verhältnis zur Qualität und Quantität seiner eingesetzten Leistung“ sei nur grundsätzlich realisiert.

Ungeklärt bleibt ferner das Verhältnis zwischen den selbstverwalteten Betrieben und dem Staat. Nach Abzweigung der Pflichtsteuer sind die Betriebskollektive eher daran interessiert, den Rest des Gewinns auf höhere Löhne statt auf Investitionen zu verteilen. Dringende Investitionen werden dadurch immer mehr mit Krediten fi-

nanziert Folge ist die Verschuldung der Betriebe bei den Banken, und die große Kreditnachfrage steigert zudem die Inflation.

Der größte Schuldner ist die Belgrader Bundesregierung selbst, die die Kredite öfters für megalomane Großbauten vor allem in der Hauptstadt verwendet. Diese Kredite werden durch neue Geldimmissionen gedeckt, meistens ohne die notwendige Ubereinstimmung mit den Teilrepubliken. So ist es nicht verwunderlich, daß Jugoslawien eine der größten Inflationsraten in Europa hat, die sich auf 20 bis 30 Prozent im Jahr beläuft

Der Arbeitsmarkt und der Marktmechanismus in der Selbstverwaltung bringen aber auch Erscheinungen mit sich, die nicht in die Theorie und Praxis des Sozialismus passen; etwa Streiks, die in Jugoslawien ungesetzlich sind, da Arbeiter-Eigentümer eigentlich nicht gegen „sich selbst“ streiken können. Mit dem Ausdruck „Arbeitsunterbrechungen“ wurde die-

ses Problem aber theoretisch schnell unter den Tisch gewischt

Diese „Arbeitsunterbrechungen“ zeigen aber, daß in der jugoslawischen Selbstverwaltung Gegensätzlichkeiten zwischen der Betriebsführung einerseits und den Arbeitern anderseits bestehen. Die gewählten Arbeiterräte kennen die komplizierten technologischen Probleme und Managerprozesse im Betrieb nicht Lediglich Direktoren und andere führende Funktionäre können sich an der internen Betriebslage orientieren. Die Verantwortung bei Fehlentscheidungen fällt jedoch sehr wohl auf die Arbeiterräte beziehungsweise auf die Arbeiter und Arbeitsversammlungen. In den vergangenen Jahren häuften sich somit Beispiele „unberechtigter Bereicherungen“ der Betriebsfunktionäre. Die vor wenigen Jahren angesagte Kampagne zur Vermögenskontrolle hat sich dadurch ad absurdum geführt

Die Selbstverwaltung sei ein Schritt näher zum kommunistischen „Absterben des Staates“, behauptet man in

Jugoslawien; gemeint ist dabei der Überbau der Staatsstrukturen und die völlige Übertragung der Staatskompetenzen an die Basis selbst. Konkrete Vorstellungen über das Funktionieren der staatslosen und zugleich klassenlosen Gesellschaft fehlen jedoch.

Schließlich ist die Selbstverwaltung der jugoslawischen Betriebe nicht ganz autonom. Alle führenden Funktionäre im Betrieb sind Parteimitglieder und haben ihre Direktiven auszu-führea Direktiven, die durch nichts begrenzt sind und von Anstellungen neuer Kräfte bis zu Fusionierungen reichen. Fusioniert wird aber gewöhnlich mit verlustbringenden Betrieben, womit die Partei die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierenden Probleme bei einer eventuellen Stillegung umgehen will. Arbeiter, die sich gegen eine solche Integration stellen, werden meistens als „zu wenig informiert“ diffamiert.

Trotzdem ist die jugoslawische Selbstverwaltung unter den sozialistischen Systemen noch das Erfolgreich-

ste. Nach und nach kopieren es auch andere osteuropäische Staaten, nach Rumänien in der letzten Zeit auch die Tschechoslowakei, wo kürzlich mit dem Experiment höherer Löhne in leistungsfähigeren Betrieben begonnen wurde. Die jugoslawischen Erfahrungen zeigen jedoch, daß die Wirtschaft ihre eigenen Gesetze hat und sich nicht in der einen oder anderen Abart einer Ideologie gefangennehmen läßt

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