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Der Schuhputzer und die Ewigkeit

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Man stößt auch heute noch auf Menschen mit unbestechlichem Urteil und gutem Geschmack — der Italiener nennt dieses große Naturgeschenk buon senso. Indes mag es zunächst ein wenig befremden, wenn man so eine erquickliche Begegnung in den Schuhputzladen verlegt und als den Träger des buon senso einen wirklichen Schuhputzer erblickt. Aber es gibt nichts Eigensinnigeres als die Wirklichkeit! Er hockte in seinem glänzenden Lüstermantel vor mir, ein Meister seines Fachs, neben ihm kniete der alte, demütige Geselle vor dem andern Kundenthron, und schweigsam wurden die Schuhe ähnlich wie die Wangen beim Friseur eingeseift, mit Farbe bepinselt, gekremt, geölt und auf jegliche Weise poliert und geglättet. Wer das nie sah, weiß noch nicht, zu welchem Glanz seine vom Erdenstaub bedeckten und vielleicht überangestrengten und blind und müde gewordenen Schuhe fähig sind. Indem ich nun seinen Händen so zusah, die immer beide arbeiten — wenn die eine die Bürste führt, schwingt die andere in entgegengesetztem tänzerischem Rhythmus mit, die Zartheit der Bürstenberührung bis auf ein Äußerstes zu verfeinern — als ich ihm dann so zusah, überlegte ich bei mir, ob solch ein auf Glanz und Sauberkeit eingestelltes Handwerk nicht etwa auf die Geisteshaltung abfärben möchte. In diesem Augenblick trat ein gutangezogener Herr vom Bürgersteig mit einem Schritt herein, er las. die Zeitung, grüßte abwesend und sagte nach einer Weile, ohne die Papierfahne sinken zu lassen: „In zehntausend Millionen Jahren ist die Sonne ausgebrannt!“ (Eigentlich sagte er: II sole si raffredda, die Sonne erkältet sich.) Ich bemerkte in dem Tonfall gleichgültigen Feststellens doch einen Anflug von Gläubigkeit.

Die Bürste auf meinen Füßen schwebte einen Augenblick in der Luft, die Linke des Glanzmeisters baumelte ohne rhythmische Kraft. „In wieviel Jahren?“ fragte er. Der Herr mit der Zeitung wiederholte nun kaltblütig die lange Zahl, sie wirkte auf eine seltsam ungefährliche Weise schaudererregend etwa wie der Name einer längst ausgestorbenen Riesenechse.

Die Bürste begann wieder ihren empfindlichen Pendelschlag, die Zeitung raschelte. Plötzlich hob der Schuhputzmeister sein Gesicht: es war schmal, beweglich, und die Haare grauten schon an den Schläfen und in dem sehr sorgsam gestutzten, die ganze Oberlippe bedeckenden Schnurrbärtchen. Er bürstete ruhig weiter, als er sagte: „Zehntausend Millionen Jahre!“ Und er lächelte dabei, spitz und versonnen, schüttelte aber schließlich barsch den Kopf. „Ich habe nichts gegen die Wissenschaft, o nein, jedoch hat alles seine Grenzen! Wenn man erwachsene Leute an der Nase herumführen will, sage ich, nun — was soll man da sagen! Frechheit, nichts als Frechheit! Und das serviert man in der Zeitung.“ Der Herr mit der Zeitung schmunzelte, der Meister ließ seine Bürste heftiger fliegen. „Mag dieser Mann mit der Sonne noch soviel studiert haben, er ist ein Kretin oder ein Hochstapler! Zehnlausend Millionen Jahre! Nein, ich sage siebentausend Millionen, wieviel sagen sie, Signore?“

Ich lächelte ausweichend, zunächst schien es mir doch noch unpassend, von der Wissenschaft zum Schuhputzer überzuwechseln.

„Na ja“, sagte er, er wandte sich gegen den alten, demütigen Gesellen, der, jeder Einmischung abhold, seinen mageren Hals verdrehte und den Schuh seines Kunden eingehendst studierte, „und wenn es selbst stimmte, was meinst du? — wichtig, was? Damit verlieren solche Narren ihre Zeit!“

Indem wurde es einen Augenblick dunkel in dem engen Raum. Die für in zehntausend Millionen Jahren totgesagte Sonne war in ihrem freudigen Einbruch durch die Gestalt einer Frau verhindert. Die hielt einen großen umwickelten Eß-napf im Arm, und Meister Lustrascarpe hob, kaum daß er den Schatten spürte, sein Gesicht: er lächelte behaglich und nickte. Die Umfangreiche mit dem Napf war offensichtlich seine Frau. Er sagte: „Was meinst du dazu, Nettunia, in zehntausend Millionen Jahren verdunkelt sich die Sonne, sie ist wie ein Ofen ausgebrannt, gibt keinen Schein mehr!“

Nettunia setzte sich soeben, den Napf auf den Knien, sie sagte ruhig: „In tausend Jahren?“ „Wie? In tausend? In zehntausend Millionen!“ „Was du sagst!“ Sie schüttelte den Kopf, aber offensichtlich mehr verwundert über den Eifer in der Stimme ihres Mannes. Lustrascarpe lachte giftig: „Und was wär's selbst in tausend! Was schert uns das! Immer nur dies Gerede von der Zukunft, von den Kindeskindern unserer Kinder! Dio mio — sehen Sie“, er wies mit der Bürste auf Nettunias Topf, den sie immer noch eingeschlagen wie ein Kind auf den Knien hielt, „all die Sorge wegen der paar Spaghetti! Wer wagt da schon an morgen und übermorgen zu denken? Und dieser Kretin macht sich Sorgen um die Sonne — um das Alter der Sonne? Und wir werden nicht einmal hundert alt!“ Jetzt warf der schweigsame Kunde neben mir ernst von seinem Thron herunter ein: „Aber Sie, irren sich, Sie erleben noch den Untergang, das Kaltwerden der Sonne! Sie sind doch unsterblich — Ihre Seele, meine ich!“

Lustrascarpe hob überrascht sein Gesicht und wies mit dem Finger auf seinen schwarzen Lüstermantel, dort, wo sein Herz saß.

„Ich?“ fragte er leise und schüttelte dann ebenso bescheiden wie belustigt den Kopf, „nichts deutet darauf hin, leider nichts. Ein Mensch, der immer nur daran denken muß, seinen Eßnapf zu füllen — ah, nicht wahr, wie sollte der auf solchen Hochmut verfallen! Und wenn's selbst so wäre, wenn ich nach meinem Tode, sagen wir als Zeitgenosse dem Erlöschen der Sonne beiwohnte, auf einem andern Stern, wie man so hübsch sagt, wird davon das Problem cfelöst?“ Er sagte wirklich Problem, und ich fragte neugierig: „Welches?“ „Ach, diesen verfluchten Topf da zu füllen, für mich und die Frau und die Kinder — von Kindeskindern will ich schon gar nichts hören!“

„Es wäre damit nicht gelöst“, versetzte der Metaphysiker zu meiner Linken, „aber das Füllen des Topfes geschähe ruhiger und vielleicht mit mehr menschlichem Anstand — ich meine bei uns allen, nicht nur bei Ihnen!“

.In zehntausend Millionen Jahren“, murmelte Meister Lustrascarpe über die Schuhe des neuen Kunden, des Herrn mit der Zeitung, gebeugt, „aber wer weiß, was im Grunde richtig ist Neulich sagte mir ein Herr, die Zeit, wissen Sie, die Zeit — ich meine nicht die unsere, die Zeit selber, ja sie sei — liege auf der Welt wie der Glanz auf den Schuhenl Er sagte sogar, sie sei eigentlich gar nicht da, sie sei nichts, und das hat mich doch ein wenig gekränkt, oder ist das nichts?“ Er wies auf meine Schuhe, die derart glänzten, daß ihre annselige Körperlichkeit davon schier aufgehoben wurde. Frau Nettunia aber hatte derweil den zum Problem gewordenen Topf aus der Hülle geholt und den Deckel gelüpft, und der herzhafte Duft weißer Bohnen und Tomaten erfüllte den Raum.

Und derweil ich durch die Gassen Roms, den Kopf gesenkt und auf meine glänzenden Schuhe starrend, dahinging und die Sonne überall an den Wänden und auch auf meinen dahintretenden Lederspiegeln gewahrte, die im Wandern bald schon trüber werden sollten, sah ich die Zeit wirklich als aufsteigenden und vergänglichen, aber weiter von neuem hervorgebrachten Glanz auf den Dingen liegen — uns es kam mir vor, als ob Astronom und Schuhputzer beide die Zeit nicht richtig eingeschätzt hätten, indem der eine sie ausschweifend in nichtssagenden Zahlen und der andere allzu bescheiden an seinem Eßnapf maß. Und ich freute mich, da ich daran dachte, daß noch Zeit sein Verde, wenn einst die Sonne in zehntausend Millionen Jahren ihren letzten Glanz auf die Dinge legen würde. Denn die Zeit, Meister Lustrascarpe, sollte man sie nicht eigentlich Lustrastelle nennen, Sternputzerei, unermüdlich, rüstig, Alter verleihend, wandelbaren Glanz und immer aufs neue ewigen Beginn?

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