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„Liebe Kitty! "

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Im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, erschien vor kurzem das „Tagebuch der Anne Frank“. Die Verfasserin war, ähnlich wie die berühmte Karmeliterin Edith Stein, als junges, 13jähriges jüdisches Mädchen vor Hitler aus Deutschland nach Holland geflüchtet. Als Hitler Holland besetzte und für die Familie die Gefahr der Verschickung in ein KZ bevorstand, verschwand die ganze Familie in einem Versteck, in dem sie zwei Jahre lebte. Kurz vor der Befreiung Hollands wurde das Versteck entdeckt und die Familie ins KZ verschickt, in dem Anne starb.

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Im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, erschien vor kurzem das „Tagebuch der Anne Frank“. Die Verfasserin war, ähnlich wie die berühmte Karmeliterin Edith Stein, als junges, 13jähriges jüdisches Mädchen vor Hitler aus Deutschland nach Holland geflüchtet. Als Hitler Holland besetzte und für die Familie die Gefahr der Verschickung in ein KZ bevorstand, verschwand die ganze Familie in einem Versteck, in dem sie zwei Jahre lebte. Kurz vor der Befreiung Hollands wurde das Versteck entdeckt und die Familie ins KZ verschickt, in dem Anne starb.

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Ueber die Zeit des Untergetauchtseins, führte die kleine Anne Frank ein Tagebuch, dem wir die tolgenden Stellen entnehmen.

Samstag, 20. Juni 1942

Ich habe bis jetzt nichts geschrieben, weil ich erst über den Zweck und Sinn eines Tagebuches ernstlich nachdenken wollte. Es ist eine eigenartige Empfindung, daß ich nun ein Tagebuch führen werde. Nicht allein, weil ich noch nie „geschrieben“ habe. Ich nehme an, daß später weder ich noch jemand anderer Interesse haben wird an den Herzensergüssen eines 13jährigen Schulmädels. Aber eigentlich kommt es darauf gar nicht an. Ich habe Lust zum Schreiben und will vor allem mein Herz gründlich erleichtern. Und nun bin ich bei dem Punkt angelangt, um den die ganze Tagebuchidee sich dreht: Ich habe keine Freundin!

Darum das Tagebuch. Um nun die Idee von der lang ersehnten Freundin in meiner Phantasie noch zu steigern, will ich nicht, wie jeder andere, nur Tatsachen in mein Tagebuch schreiben, sondern dieses Tagebuch meine Freundin selbst sein lassen, und diese Freundin heißt: Kitty!

Niemand könnte meine Unterhaltung mit Kitty verstehen, wenn ich so mit der Tür ins Haus fiele. Darum will ich meine Lebensgeschichte erzählen, so ungern ich es auch tue.

Als meine Eltern heirateten, war mein Vater 36, meine Mutter 25 Jahre alt. Meine Schwester Margot ist im Jahre 1926 in Frankfurt am Main geboren, am 12. Juni 1929 folgte ich. Als Juden emigrierten wir im Jahre 1933 nach Holland, wo mein Vater Direktor bei der Travis AG. wurde.

Unser Leben verlief mit den üblichen Aufregungen. Nach dem Pogrom 1938 flüchteten die beiden Brüder meiner Mutter nach Amerika. Meine Großmutter kam zu uns. Sie war damals 73 Jahre alt. Nach 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten. Erst kam der Krieg, dann die Kapitulation, dann der Einzug der Deutschen. Und nun begann das Elend. Ein diktatorisches Gesetz folgte dem anderen, und speziell für die Juden wurde es besonders schlimm. Sie mußten den Stern tragen, sie mußten ihre Fahrräder abgeben, sie durften nicht mehr mit der Elektrischen fahren, von Autos gar nicht zu reden. Juden durften nur zwischen 15 und 17 Uhr — und dann nur in jüdischen Geschäften — einkaufen. Sie durften nach 20 Uhr nicht mehr auf die Straße und sich nach dieser Zeit auch nicht im Garten oder auf dem Balkon aufhalten. Juden durften weder ins Theater noch ins Kino gehen noch andere Vergnügungsstätten besuchen. Juden durften nicht mehr zu Christen auf Besuch gehen. Unter diesem Druck stand von nun an unser ganzes Leben.

Mittwoch, 8. Juli 1942

Liebe Kitty!

Zwischen Sonntag morgen und heute scheinen Jahre zu liegen. Es ist unendlich viel geschehen, es ist, als wäre die Erde verwandelt! Aber, Kitty, ich lebe noch, und das ist die Hauptsache, sagt Vater. Ja, ich lebe noch, aber frage mich nur nicht wie. Wahrscheinlich begreifst Du mich heute schon gar nicht mehr. Darum werde ich Dir nun mal erst erzählen, was sich seit Sonntag ereignet hat.

Um 15 Uhr hatte es geschellt. Ich hatte nichts gehört, weil ich gemütlich faul auf der Veranda im Liegestuhl lag und las. Da kam Margot ganz aufgeregt an die Tür. „Anne, für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen“, flüsterte sie, „Mutter ist schon zu Herrn van Daan gelaufen.“ Ich erschrak furchtbar. Ein Aufruf jeder weiß, was das bedeutet: Konzentrationslager . . . einsame Zellen sah ich vor mir auftauchen, und dahin sollten wir Vater ziehen lassen! „Er geht natürlich nicht“, sagte Margot bestimmt, als wir im Wohnzimmer zusammensaßen, um auf Mutter zu warten. „Mutter ist zu van Daans gegangen, um zu besprechen, ob wir nun schon morgen untertauchen. Van Daans gehen mit, dann sind wir sieben.“

Untertauchen! Wo sollen wir untertauchen? In der Stadt, auf dem Lande, in irgendeinem Gebäude, einer Hütte, wann, wie, wo? Das waren Fragen, die ich nicht

DER KRYSTALL

SEITE 2 1 NUMMER 46 13. NOVEMBER 1954

stellen durfte, die aber doch immer wieder in meinem Hirn kreisten.

Margot und ich begannen das Nötigste in unsere Schultaschen zu packen. Das erste, was ich .nahm, war dieses gebundene Heft, dann, bunt durcheinander: Lockenwickler, Taschentücher, Schulbücher, einen Kamm und alte Briefe. Ich dachte ans Untertauchen und stopfte lauter unsinniges Zeug in die Tasche.

Um 17 Uhr kam Vater endlich nach Hause. Er rief Herrn Koophuis an und bat ihn, abends zu uns zu kommen. Herr van Daan ging, um Miep zu holen. Sie kam, packte Schuhe, Kleider, Mäntel, etwas Wäsche und Strümpfe in einen Handkoffer und versprach, abends wiederzukommen. Dann wurde es still bei uns. Keiner von uns wollte essen. Es war noch sehr heiß und alles war so sonderbar.

Um 23 Uhr kamen Miep und Henk van Santen. Miep ist seit 1933 in Vaters Geschäft tätig und uns eine treue Freundin geworden, ebenfalls ihr neugebackener Ehemann Henk. Wieder verschwanden Schuhe, Strümpfe, Bücher und Wäsche in Mieos Koffer und Henks tiefen Taschen. Um 23.30 Uhr gingen sie beladen davon. Ich war todmüde; obgleich ich wußte, daß es die letzte Nacht in meinem eigenen Bett sein würde, schlief ich sofort ein und wurde am nächsten Morgen um 5.30 Uhr von Mutter geweckt. Wir zogen uns alle vier so dick an, als ob wir im Frigidaire übernachten sollten. Aber wir wollten doch noch möglichst viel Kleidung mitnehmen. Kein Jude in unserer Situation konnte es wagen, mit einem schweren Koffer über die Straße zu gehen.

Margot stopfte ihre Schultasche noch mit Schulbüchern voll, holte ihr Rad und fuhr hinter Miep her in eine für mich unbekannte Ferne. Ich kannte nämlich immer noch nicht den geheimnisvollen Ort, der uns aufnehmen sollte Um 7.30 Uhr schlossen auch wir die Türe hinter uns.

Liebe Kitty!

Wir liefen durdi den strömenden Regen, Vater, Mutter und ich, jeder mit einer Akten- und einer Einkaufstasche, bis oben vollgepfropft mit einem wüsten Durcheinander. Unterwegs erzählten mir die Eltern Punkt für Punkt, wie der Plan, unterzutauchen, entstanden war. Schon monatelang hatten wir einen Teil unserer Einrichtung und unserer Kleidung in Sicherheit gebracht. Nun waren wir gerade so weit, daß wir freiwillig am 16. Juli verschwinden wollten. Durch den Aufruf war es zehn Tage früher geworden und wir mußten uns zufriedengeben, wenn die Räume noch nicht zweckmäßig instand gesetzt waren. Das Versteck ist im Geschäftshaus von Vater. Für Außenstehende ist das schwer zu begreifen. Darum will ich es näher erklären. Vater hatte nie sehr viel Personal: Herrn Kraler, Herrn Koophuis, Miep und Elli Vossen, die 23jährige Stenotypistin. Sie wissen alle, daß wir kommen. Nur im Magazin Herr Vossen, der Vater von Elli, und die beiden Hausdiener sind nicht eingeweiht.

Freitag, 10. Juli 1942

Liebe Kitty!

Als wir in der Prinsengracht ankamen, nahm Miep uns schnell mit nach oben ins Hinterhaus. Sie schloß die Tür hinter uns und da waren wir. Margot war mit dem Rad viel schneller hingekommen und wartete schon auf uns. Unser Wohnzimmer und auch die anderen Räume sahen noch wie Rumpelkammern aus, unbeschreiblich! Alle Kartons und Koffer, die im Laufe von Monaten ins Geschäft geschickt waren, standen kunterbunt herum. Das kleine Zimmer war bis an die Decke mit Betten und Bettzeug vollgepfropft. Wenn wir abends in ordentlich gemachten Betten schlafen wollten, mußten wir uns daranmachen und aufräumen. Vater und ich, die beiden „Aufräumer“ in der Familie, gingen gleich an die Arbeit. Wir packten alles aus, räumten ein, klopften, scheuerten, bis wir am Abend todmüde in die sauberen Betten fielen. Dienstag morgen ging es dann weiter Elli und Miep kauften mit unseren Lebensmittelkarten ein, Vater besserte die unvollständige Verdunkelung aus und wir schrubbten die Dielen in der Küche und waren alle von morgens bis abends be schäftigt. Bis Mittwoch hatte ich überhaupt keine Zeit, über die großen Umwälzungen nachzudenken, die sich in meinem Leben vollzogen hatten. Dann erst kam ich — zum erstenmal seit unserer Ankunft hier im Hinterhaus — dazu, mir klarzumachen und Dir zu erzählen, was eigentlich geschehen war und was wohl noch geschehen soll.

Freitag, 21. August 1942

Liebe Kitty!

Unser Schlupfwinkel ist nun ein richtiges Versteck geworden. Herr Kraler hatte die gute Idee, die Eingangstür zu unserem Hinterhaus zu verbauen, weil so viele Haussuchungen nach Fahrrädern gehalten werden. Den Plail ausgeführt hat Herr Vossen: Er hat ein drehbares Regal gemacht, das sich nach der einen Seite als Tür öffnet. Natürlich mußte er zu diesem Zweck „eingeweiht werden und ist nun die Hilfsbereitschaft selbst.

Donnerstag, 19. November 1942

Liebe Kitty!

Dussel hat uns viel von der Außenwelt erzählt, von der wir nun schon so lange abgeschnitten sind. Was er erzählte, war meist traurig. Ungezählte Freunde und Bekannte wurden weggeholt in der grauenhaften Erwartung eines schrecklichen Loses. Abend für Abend rasen die grauen und grünen Militärautos durch die Straßen. Die „Grünen“ (das ist die deutsche SS) und die „Schwarzen“ (die holländische Nazipolizei) suchen nach Juden. Wo sie einen finden, nehmen sie die ganze Familie mit. Sie schellen an jeder Tür, und ist es vergeblich, gehen sie ein Haus weiter. Manchmal sind sie auch ‘mit namentlichen Listen unterwegs und holen dann systematisch die „Gezeichneten“. Niemand kann diesem Schicksal entrinnen, wenn er nicht rechtzeitig untertaucht. Manchmal lassen sie sich auch Lösegeld bezahlen. Sie kennen die Vermögenslage ihrer Opfer.

Es ist wie eine Sklavenjagd in früherer Zeit. Ich sehe es oft im Geiste vor mir: Reihen guter, unschuldiger Menschen mit weinenden Kindern, kommandiert von ein paar furchtbaren Kerlen, geschlagen und gepeinigt und vorwärtsgetrieben, bis sie beinahe umsinken. Niemand ist ausgenommen. Die Alten, Babies,

schwangere Frauen, Kranke, Sieche , alles,

alles muß mit in diesem Todesreigen!

Freitag, 12. März 1943

Liebe Kitty!

Wir haben so oft weiße Bohnen gegessen, daß ich sie nicht mehr sehen kann und mir schon schlecht wird, wenn ich nur daran denke. Abends gibt es kein Brot mehr. Mutter habe ich abends die Haare gewaschen. Das ist hier auch nicht so einfach. Erstens müssen wir uns mit klebriger Schmierseife behelfen und zweitens kann Mutti ihr starkes Haar schlecht auskämmen, weil unser Familienkamm nur noch ungefähr zehn Zähne hat.

Donnerstag, 16. September 1943

Liebe Kitty!

Je länger es dauert, desto schlechter vertragen sich hier alle miteinander. Bei Tisch wagt niemand den Mund aufzumachen (außer zum Essen natürlich), denn was man sagt, wird übelgenommen oder verkehrt aufgefaßt. Täglich schlucke ich Baldrian-Dispert wegen meiner Depressionen, aber das verhindert nicht, daß die Stimmung am nächsten Tag noch schlechter ist. Einmal wieder frei und froh lachen wäre besser als zehn von den kleinen, weißen Pillen, aber das Lachen haben wir hier fast verlernt. Manchmal fürchte ich, daß ich nach dieser schweren Zeit ganfc häßlich sein werde, einen zusammengekniffenen. Mund und Sorgenfalten behalte. Bei den anderen ist es auch nicht besser: Alle sehen mit großer Sorge dem Winter entgegen. Oft irre ich im Haus herum, von einem Zimmer zum anderen, treppauf, treppab. Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt. „Heraus, heraus“, schreit es in mir, „ich habe Sehnsucht nach Luft und Lachen!“

Aber ich weiß, daß es keine Antwort darauf gibt, und dann lege ich mich schlafen, um über diese Stunden mit ihrer Stille und Angst hinwegzukommen.

Mittwoch, 29. Dezember 1943

Liebe Kitty!

Warum drehen sich meine Träume und Gedanken nur um alles Schwere, so daß ich oft herausschreien möchte? Weil ich trotz allem noch nicht das rechte Gottvertrauen habe! Er hat mir so viel gegeben, was ich gar nicht verdient habe, und doch mache-ich noch jeden Tag etwas falsch!

Wenn man an seine Nächsten denkt,

müßte man weinen. Eigentlich müßte man den ganzen Tag weinen. So bleibt nur das

Gebet und die Bitte zu Gott, daß er ein

Wunder geschehen lasse.

Mittwoch, 29. März 1944

Liebe Kitty!

Die Menschen stehen Schlange, um Gemüse zu bekommen oder was es sonst mal gibt. Die Aerzte können nicht zu ihren Kranken, weil ihnen ihr Auto, wenn sie noch eines haben, oder ihr Rad gestohlen ist. Man hört von Einbrüchen und Diebstählen in größter Menge, so daß ich mich immer wieder frage, wo die sprichwörtliche Ehrlichkeit der Holländer geblieben ist. Kleine Kinder von acht bis elf Jahren schlagen die Fensterscheiben fremder Wohnungen ein und fiehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Niemand wagt es, sein Haus nur fünf Minuten allein zu lassen, denn wenn man eine Weile weg ist, ist nachher alles flöten.

Dienstag, 6. Juni 1944

Liebe Kitty!

„This is D.-day“, sagte um 12 Uhr das englische Ràdio, und mit Recht! This is the day. Die Invasion hat begonnen.

Das Hinterhaus ist im Taumel. Soll denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die Befreiung, von der so viel gesprochen wurde, die aber doch zu schön ist, zu märchenhaft, um jemals Wirklichkeit zu werden? Wird uns dieses Jahr 1944 den Sieg bringen? Wir wissen es noch nicht, aber die Hoffnung belebt uns, gibt uns wieder Mut, macht uns wieder stark. Denn mutig müssen wir die Angst, die Entbehrungen, das Leid ertragen, nun kommt es darauf an, ruhig und standhaft zu bleiben.

Nachwort

Am 4. August fiel die „Grüne Polizei" ins Hinterhaus ein, arretierte alle Versteckten und brachte sie in deutsche bzw. holländische Konzentrationslager.

Das „Hinterhaus’ wurde durch die Gestapo ausgeraubt. Zwischen alten Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die achtlos liegengeblieben waren, fanden Miep und Elli Annes Tagebücher. Mit Ausnahme einiger Stellen, die ür den Leser wertlos sind, wurde der ursprüngliche Text abgedruckt.

Von den ,Untergetauchten’ ist nur der Vater zurückgekehrt. Anne starb im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen, zwei Monate vor der Befreiung Hollands.

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