Verantwortung vor dem Werk

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Wilhelm Furtwängler die furche 4. 2. 1950

Es ist immer der Mensch, der die Kunst macht. All dies wäre nicht möglich, wenn nicht hinter dieser Art von Musik der Mensch stünde, dem sie entspricht. Und da scheinen es mir heute vor allem zwei Typen zu sein, die in Frage kommen: die einen, die beim Musizieren nicht mehr Seinserfüllung, nicht mehr Ausdruck eigenen Lebens und Erlebens suchen, sondern mehr das Machen, das Vollbringen, die "perfekte Leistung". Überwiegt dies - und das ist in unserem Zeitalter der Technik eine große Gefahr - so wird die Kunst allgemach mehr und mehr zum Sport. [...]

In Ländern mit alter Musikkultur wie Österreich und Deutschland ist indessen diese Gefahr nicht so groß. Gefährlicher sind hier jene, die sich deshalb mit jeder Wandlung abfinden, weil sie von jeher gewohnt sind, sich mit allem "abzufinden". Und das, weil sie die ewigen Zuschauer sind, die sich höchstens angelegen sein lassen, was geschieht, als "historisch notwendig" zu begreifen, als "psychologisch bedingt" zu verstehen. [...]

In der Kunst nicht mehr den Ausdruck des eigenen Selbst, sondern in erster Linie Anlaß für historische und psychologische Erkenntnisse zu finden, gilt heute als zeitgemäß. Es ist die Funktion, die eine alternde Kunst im Kulturbewußtsein der Menschen hat, als Dokument zu dienen für die, die sie einst geschaffen haben, die hinter ihr stehen. In einem Zeitalter der Wissenschaft ist der dokumentarische Wert der letzte, der der Kunst, diesem vornehmsten und lebendigsten Zeugnis menschlichen Seins, noch verbleibt. Dann freilich ist es nicht mehr Leidenschaft und Hingabe, nicht mehr Wille zur Selbstbetätigung und Selbstverkörperung wie bisher, was unsere Musik trägt. Der Muttergrund aller Kunst, die Liebe, hat sich dann gewandelt, ist herabgesunken zur bloßen "Neugier".

Noch ist es nicht so weit; noch sind produktive Kräfte am Werke, unter Schöpfern wie unter Darstellenden. Noch wollen wir - jedenfalls ein Teil von uns - uns selbst verkörpern, uns selbst verwirklichen, wenn wir schaffen; noch setzen wir uns mit den Werken direkt Auge in Auge auseinander, wenn wir darstellen. Gewiß, die Welt ist alt, wir sind "Enkel". Aber bloß zuschauen, abtreten - nein, soweit sind wir Gott sei Dank noch nicht; des wollen wir - Schaffende und Darstellende - eingedenk bleiben. Und des mögen auch diejenigen, die die Kunst tragen und für die sie geschaffen wird, eingedenk bleiben!

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