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Von Büchern, die die Welt verändern

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Es ist eine Binsenwahrheit, daß kein Buch eine Wirkung haben kann, wenn es nicht einen aufnahmebereiten Leserkreis vorfindet. Rous-seaus „Contract Sociale“ war wie ein Samen, der auf eineTi eigens für ihn geeigneten Boden fällt, und ganz das gleiche gilt Von Calvins „Insti-tutio“. Calvins Buch fand einen Leserkreis vor, der in einer erregten Stimmung leidenschaftlichen Protestes nach einem Ausweg suchte, um die Priester loszuwerden, ohne die Gesellschaftsordnung zu sprengen. Aber warum gerade dieser Ausweg? Und wie kann man es verstehen, daß die trockene, schematische Darlegung eines Planes, die wohl klar, aber ohne den geringsten Funken einer Begeisterung geschrieben ist, plötzlich jene tollwütigen Reiterattacken der Religionskriege verursacht, den Fanatismus der schottischen Enthusiasten entfacht und die gewaltige Bewegung in Genf ausgelöst haben soll?

Man darf wohl annehmen, daß jene Bücher, die scheinbar die Welt verändern, selbst mehr Wirkungen als Ursachen seien. Wir wissen auch, daß viele der großen Umwälzungerl in der Geschichte ganz ohne ein Buch, das sie verkündigt hat, vor sich gegangen sind, obgleich hur wenige große Bewegungen überhaupt kein Buch aufzuweisen haben, das sie früher oder später zusammenfassend dargestellt hätte. Es hat den Anschein, als entstünden die großen Bewegungen in der Geschichte so ähnlich wie jene breiten Riesenwogen auf hoher See, die, ohne den kleinsten Lufthauch, bei ruhigstem Wetter sich plötzlich und unbegreiflich erheben und dahinrollen. Die allgemeine Stimmung und Gemütsverfassung in einer Zeit mag unter Umständen Anlaß zu einem Buch sein und mag auch dazu führen, daß daraus eine Bewegung entsteht, die organisatorische Formen annimmt. Dürfen wir aber wirklich jene berühmten Bücher, die umwälzenden Ereignissen unmittelbar vorangegangen sind, als deren Ursachen bezeichnen? Sind jene Männer, die beklagen, zu spät geboren zu sein, um den Koran geschrieben zu haben, zu einer solchen Klage berechtigt? Und wäre es anderseits hinreichend gewesen, das Buch zu schreiben? Ist es nicht etwa so, daß das Genie eines Mannes, das aus dem Buche zur Welt spricht, in seinem Leben bloß zeitlich zusammenfällt mit einer großen Geistesbewegung, so daß der Autor oder das Genie irgendeiner Art nur zum Werkzeug im geschichtlichen Geschehen wird?

Angenommen, unsere Zweifel würden im positiven Sinne gelöst; angenommen, wir kämen zu dem Ergebnis, daß das Buch tatsächlich nicht als Wirkursache gedient hat und daß die machtvollen Erscheinungen des Calvinismus, der Republik, des modernen Kollektivismus nicht verursacht sind vom „Institutio“, dem „Contract Sociale“ oder diesem schauderhaft langweiligen, unförmigen Wälzer von Marx „Das Kapital“? Müssen wir demnach annehmen, daß nie ein Buch derartige Wirkungen erzielt? Müssen wir also das Todesurteil sprechen über die Tausende ehrgeiziger, junger Männer, die ihr Herzblut hingeben, um die Welt mit ihrer Schreibmaschine zu retten, und über die ungezählten Millionen eher ältlicher Damen, die derselben Aufgabe ihr Leben opfern? Gott behüte!

Es gibt, wie ich mir vorstelle, eine bestimmte Art von Büchern, die die Welt wirklich unmittelbar beeinflussen und von denen man mit vollem Rechte sagen kann, daß sie die eigentlichen Ursachen der Ereignisse sind, die ihrem Erscheinen folgen. Es sind nicht die Bücher, die bloß dem Ausdruck geben, was die Leser in unbestimmter Weise bereits gefühlt und ersehrtt haben, noch auch sind es die Bücher, die durch ihre Sprache und ihre Rhetorik eine Begeisterung entflammen; es sind jene Bücher, die mit voller Klarheit die Entdeckung einer Wahrheit verkünden und für, sie einen positiven Nachweis erbringen.

Das ist, wie mir scheinen will, das entscheidende Moment; von einem solchen Buche kann man wirklich sagen, es macht Geschichte — freilich, wehn man es entdeckt. Einige von solchen Büchern sind berühmt geworden, aber der größte Teil von ihnen bleibt unbekannt. Eines der verdientermaßen berühmtesten unter ihnen ist „Discours de la Methode“ von Descartes.

Da haben wir weiter die „Principia“ von Newton. Ich glaube aber, daß es eine große Anzahl derartiger Bücher gibt, die keine unmittelbar sichtbare Wirkung erkennen lassen und 1 nur einem kleinen Leserkreis bekannt werden. Manchmal bemerke ich im Leben, daß die Menschen um mich herum beginnen, über dieses oder jenes in einer ganz bestimmten Weise zu sprechen, die ihnen vor dreißig Jahren völlig unbekannt und fremd gewesen wäre, und daß die Art, in der sie das Thema behandeln, unverkennbar auf irgendein obskures Buch hindeutet, das nur für einige hundert Leser geschrieben worden war, von denen die meisten vielleicht vergessen haben, daß sie es gelesen haben, und daß es bestimmte Ideen vermittelt hat, die sie in sich aufnahmen und von denen sie sehr bald überzeugt waren, daß es ihre ureigenen Gedanken sind.

Von welchem Buche ließe sich zum Beispiel heute feststellen, daß es die Ursache unserer gegenwärtigen Haltung gegenüber den Naturwissenschaften gewesen ist? (Ich meine hierbei nicht unsere Haltung gegenüber den feststehenden und erwiesenen Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften, sondern unsere Haltung gegenüber jener altmodischen Schulweisheit, die wir mit dem jetzt sosehr in Mißkredit gekommenen Worte „Naturwissenschaftler“ verbinden.) Kann mir jemand das Buch nennert, das diesen Stimmungsumschwung hervorgebracht hat? Heute umspielt ein nachsichtig-ironisches Lächeln die Lippen der Leute, wenn sie Worte Wie etwa „der Aether“ oder „die Erdkruste“ hören. Und weiter: Wann und wo und durch wen begann jene Wiederbelebung des Thomis-mus, die sich auf dem europäischen Kontinent so deutlich bemerkbar macht? Viele Bücher haben sich mit diesem Thema befaßt; aber ich bezweifle sehr, daß man auf eines von ihnen als den eigentlichen Ursprung hinweisen kann.

Bevor ich aber schließe, möchte ich doch noch einem tröstlichen Gedanken Ausdruck geben. Die ganzen epochemachenden Werke unserer eigenen Zeit sind alle nichts wert. Ist dieses Bewußtsein nicht eine reine, ungetrübte Freude? Seit dreißig oder mehr Jahren ist jährlich mindestens ein Buch, gewöhnlich aber ein halbes Dutzend erschienen, das nicht iuir vom Verleger und in den Voranzeigen und von den armen Teufeln, die Buchbesprechungen schreiben müssen, als Wendepunkt der Geistesgeschichte der Menschheit bezeichnet worden ist. Bücher über Krieg, übet Theologie, über Geschichte. Ihr Ruhm währt, wenn es hoch geht, drei Monate; sonst aber zehn Tage. Und die Welt geht weiter ihren Lauf im Holterdiepolter nach abwärts. Nicht eines“ von all den flüchern hat eine dauernde Wirkung.

Du lieber Himmel! Welche Unmasse solcher Bücher ist uns beschieden worden! Das Buch vor dem Kriege, das nachwies, daß ein moderner Krieg unmöglich sei, weil er zuviel koste; das Buch, das die Unmöglichkeit des Fliegens in der Luft bewies und das zeigte, daß das Fliegen, wenn es doch gelingen sollte, die reine Zeitvergeudung wäre; das Buch, das zeigte, daß das Fliegen das Geheimnis des militärischen Triumphes sei und der Schlüssel zu Reichtum, Glück und Zufriedenheit; das Buch, das haarscharf bewies, daß Kriegsflotten niemals die Meerengen verteidigen können; das Buch, das zeigte, daß Kriegsflotten in den Meerengen allein ihre größten Triumphe erringen können; das Buch, das die herrlichste Zukunft für die Menschheit eröffnete, und das Buch, das klar beweist, daß die Menschheit schon längst Selbstmord begangen hat.

Und zu meiner hellen Freude geht es auch heute immer noch weiter in dieser Tonart. Erst heute morgen fiel mir ein Buch in die Hände, das die Geheimnisse der großen Pyramide enthüllt und das Ende der Welt verkündet. Nächsten Sommer geht die Welt unter. Ich glaube es nicht; es ist zu schön, um wahr zu sein. Uebersetzung aus dem Englischen von H. Breitenfeld.

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