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Zwisdien Odin und Christus

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„Herrn Tores Tochter in Vänge,

sie schlief, und schlief zu lang;

sie schlief die Morgenmesse fort.

Gott gnade der Jungfrau beim Kirchengang.“

DIE GRAUSIG-ERGREIFENDE SCHWEDISCHE VOLKSWEISE vom Herrn Tore in Vänge und seiner schönen Tochter Karin stammt aus dem 13. Jahrhundert. Wenn man weiß, wie verschwindend wenig Zeugnisse der Volksdichtung im Norden aus jener Zeit erhalten und in unsere Zeit überkommen sind, wird man sich der Weise vom Leben und gewaltsamen Tod des blutjungen Menschenkindes behutsam und achtungsvoll nähern. Was siebenhundert Jahre lang einem in unvorstellbarer Dürftigkeit lebenden Volke der endlosen Wälder wert erschien, bewahrt und weitergegeben zu werden, muß' für die Volksseele Wesentliches enthalten.

Einige Vorstellungen des Filmes „J u n g f r u-k all an“ (Jungfrauenquelle oder Mädchenbrunnen), den der bekannte Regisseur Ingmar Bergman aus dieser Saga gemacht hat, bewiesen schon, daß dieses Thema und die daraus entspringenden Spekulationen heute genau so wie vor Jahrhunderten packen und zur Stellungnahme zwingen. Mag es nun ein überwältigend großartiger oder ein bestürzend schlechter Film geworden sein — beides wird heute in Schweden behauptet! —, es ist unter allen Umständen ein Film, der das Volk erregt wie kein anderer seit Jahrzehnten und der es brutal vor eine Entscheidung stellt: Hie das Idyll, hie die blutige Gewalt; hie die schonungslose Rache, hie der versöhnende Glaube; hie Odin, hie Christus!

Man kann diesen Film ablehnen und man kann ihm begeistert applaudieren; gleichgültig sein gegenüber ihm kann man nicht!

HERR TÖRE, DER FREIE UND STOLZE BAUER, herrscht wie ein König auf seinem mächtigen Hof in den tiefen Wäldern. Alle seine Gedanken kreisen um die einzige Tochter, die liebliche blonde Karin. Das zweite Mädchen im Haus, die dunkle Ingeri, ein Findelkind, ist das vernachlässigte Aschenbrödel, das allmählich von einem verzehrenden Haß gegen die stolze und verwöhnte Karin ergriffen wird.

Auf dem morgendlichen Ritt zur Kirche weigert sich Ingeri, Karin weiter zu folgen, und gerät selbst in einen Hinterhalt, dem sie nur mit Mühe entkommt. Die schöne Karin reitet allein weiter durch den Frühlingswald und gleicht in ihren prächtigen Festkleidern einer dem Märchenland entsprungenen Königstochter. Für eine solche halten sie auch die verkommenen drei Hirten, denen sie begegnet, und die das Mädchen in kindlicher Ahnungslosigkeit zu einem gemeinsamen Mahl einladet. Es kommt wie es kommen mußte. Die Weise erzählt:

„Sie packten die goldenen Haare sodann und schleppten sie zwischen Birken und Tann. Erst wurde sie der drei Hirten Weib, dann töteten sie den jungen Leib...“

Die wilden Gesellen vergewaltigten das Mädchen und töteten es. Mit den geraubten prächtigen Kleidern aber kommen sie, die Zusammenhänge nicht ahnend, in Herrn Tores Haus und versuchen, die Kleider der Mutter Karins zu verkaufen. Herr Töre hält ein furchtbares Gericht und erschlägt die drei Hirten, auch den vierzehnjährigen Jungen unter ihnen, der ganz ohne Schuld,ist. Zu der fremden Schuld gesellt sich die eigene! Als Töre und seine Frau die tote Karin finden und erkennen, daß auch sie nicht schuldlos sind an diesem Tod, und der Vater gelobt, mit seinen zwei Händen an dieser Stelle eine Kirche zu bauen, springt eine Quelle aus dem Boden auf, und ihr klares Wasser wäscht gleichsam versöhnend das Blut und die Verzweiflung hinweg.

ES BEDEUTET NOCH KEINE STELLUNGNAHME, wenn man sagt, daß Ingmar Bergman aus der Saga einen außerordentlich eindrucksvollen Bildstreifen gestaltet hat. Die Wirkungskraft dieses Filmes wird von keinem Kritiker bestritten. Er trifft wie ein brutaler Schlag zwischen die Augen, und nahezu voll Furcht stellt man fest, welche unerhörten Wirkungen mit den Mitteln raffiniertester Technik erreicht werden können. Der Wechsel zwischen Hell und Dunkel, zwischen nebelumwobenen düsterem Heidentum und kindlich-christlicher Frömmigkeit, zwischen zartester Poesie und barbarischer Gewalt ist hohe Filmkunst. Doch welchem Zweck dient diese Kunst? Erhebt und erlöst sie? Dient sie dem Guten oder dem Bösen? Benützt sie der Künstler nur, um seine dem Negativen verfallene Kraft und Macht über das Gefühl der Menschen zu beweisen? Alles das behauptet die Kritik; aus dem Publikum bilden sich zwei, drei und vier Lager, die Verwirrung ist vollkommen!

DER SCHWERSTE EINWAND, der im deutschsprachigen Bereich für die Zulassung des Streifens maßgebend sein wird: Die Vergewaltigungsszene, und mehr noch die Rache an den Hirten sind allzu realistisch und brutal. So weit ging man bisher im schwedischen Fiim noch nie. Was bisher als realistische Darstellung bezeichnet wurde, wirkt im Vergleich mit den stärksten Szenen dieses Filmes wie eine Laienvorführuhg in einem Familiennachmittag. Es ist kaum vorstellbar, daß der Film in der jetzigen — schon gemilderten! — schwedischen Fassung überall gezeigt werden wird

„Ich verstehe Ingmar Bergman nicht“, sagt eine im öffentlichen Leben stehende Frau, Abgeordnete des Parlaments und Doktor der Rechte, „in dieser Weise mit Gewalt, Schlechtigkeit und Abnormität konfrontiert zu werden, hinterläßt ausschließlich ein Gefühl von Ekel und Abscheu. Brauchen wir wirklich eine solche Illustration zum bestialischsten von allen Verbrechen?“

Doch Irja Browallius, eine der beliebtesten schwedischen Dichterinnen, schreibt: „Ergriffen und erschüttert verließ ich den Saal. Das Weinen quoll in der Kehle auf. Es ist ja nicht nur so, daß dieser Film so kunstvoll ausbalanciert ist, so lebendige Menschenschilderung und lichte Lyrik in der Frühlingslandschaft um das Mädchen. Die Handlung ist der Ausdruck der Verzweiflung über das Böse, und darum wird sie so allgemeingültig und zeitlos. Sie ist ein wilder Protest gegen die Gewalt in der Welt, ein Protest und eine Frage!“

Und an einer anderen Stelle heißt es: „Wir sind gewohnt vorbeizusehen, die Augen zu schließen und zu vergessen! Doch hier sind wir gezwungen zu sehen! Das Leben steht vor uns, entkleidet und nackt, so,wie es überall um uns sein kann!“ — Nach solchen Worten hat man bisher in Schweden vergeblich gelauscht.

DIE SCHAUSPIELERISCHEN LEISTUNGEN sind aus einem Guß, die Regie ist meisterhaft, der Eindruck überwältigend. Es wurde gesagt, daß für Schauspiele solcher Art die Altersgrenze auf zwanzig Jahre festgesetzt werden sollte, doch das ist kein gangbarer Weg: Wo läuft die Altersgrenze zwischen bereiter Aufgeschlossenheit und stumpfer Teilnahmslosigkeit? Sonderbarerweise scheint der Film von den Frauen besser begriffen zu werden als von den Männern, von den Menschen mit religiöser Überzeugung besser als von den sogenannten Kulturradikalen. Man muß wohl an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer inneren Erlösung und Befreiung glauben, wenn dieser Film nicht zu einer Folge leerer Bilder werden soll.

WÄHREND DIESE ZEILEN GESCHRIEBEN WURDEN, erreichten die Auseinandersetzungen um diesen Film eine Intensität und einen Grad der Unversöhnlichkeit mit dem Standpunkt des Gegners, wie man es in Skandinavien kaum jemals zuvor erlebt hat. Nicht nur die großen Tageszeitungen, auch alle Wochenzeitungen, die großen Blätter der Gewerkschaften (kann sich jemand in Deutschland oder in Österreich vorstellen, daß die Gewerkschaften sich leidenschaftlich in einer für sie so sublimen kultu* relleri Frage engagieren?)“ und' nicht zuletzt auch die Genossenschaften widmeten diesem Thema viele Seiten. Eine gewisse Frontbildung nach der politischen Herkunft ist dabei deutlich merkbar, was die Argumente der Antagonisten Bergmans nicht gerade glaubwürdiger erscheinen läßt. Während Olof Lagercrantz vom „Dagens Nyheter“, den man als einen der prominentesten „Kulturradikalen“ betrachtet, den Film als wertlos bezeichnet, findet der Konservative Sven Stolpe (Konvertit) für ihn warme Worte der Anerkennung.

Sehr interessant ist eine Erklärung, die von der Schriftstellerin Ulla Isaksson, die über Bergmans Wunsch das Filmmanuskript ausarbeitete, in der norwegischen Zeitung „Morgenposten“ abgegeben hat.

„Die drei Gewalttäter sind an und für sich keine Unmenschen“, schreibt die Schriftstellerin. „Überhaupt wurde das Gewicht darauf gelegt, in den Zuschauern das Mitleid mit allen Personen dieses Films zu erregen. Darum ist auch die sonderbare Rede, die der Bettler auf Vänge vor dem Tode der Verbrecher hält, so wichtig. Hier geht es um die Gnade Gottes! Das letzte Wort des Films ist, daß wir nicht aus eigener Kraft ein Leben als Menschen zu leben vermögen. Wenn in der letzten Szene Herr Töre auf die Knie sinkt und um Verzeihung bittet, dann geschieht das deshalb, weil die Verzeihung und Versöhnung überhaupt die einzige Möglichkeit ist. Es ist auch von großer Bedeutung, daß die Quelle aufbricht, da alle diese Verzeihung brauchen. Daß es diese Möglichkeit gibt, das ist der Sinn des Filmes. — Sollte es wirklich so sein, daß die Menschen das nicht verstehen oder damit nichts verbinden können, dann bleiben die Bilder des Filmes ohne Inhalt und dann eröffnen sich auch schauerhafte Perspektiven.“

Auch die eingehendste Rezension wird nicht mehr sagen können, als es die Worte der Dichterin und die Bilder des Regisseurs zu tun vermögen. Das Mindeste ist wohl, daß man hier die lautere Gesinnung und den guten Vorsatz anerkennt, und das sei hiermit getan!

NUR EINE FRAGE DRÄNGT SICH NOCH AUF: Wie unerbittlich mag der Mensch, der so ein Werk schafft, von Dämonen gejagt werden, wie stark mag er um Befreiung ringen? — Von Odin zu Christus ist ein weiter Weg, und Ingmar Bergman und seine Schar ziehen gefährliche Pfade.„

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