Droht geistige Verwahrlosung?

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Das Vermächtnis-Buch von Wolfgang Kraus aus der Sicht eines in England lebenden Kulturexperten.

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Das Vermächtnis-Buch von Wolfgang Kraus aus der Sicht eines in England lebenden Kulturexperten.

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Wolfgang Kraus starb im September 1998, bevor er seinen Band "Rettung Kultur" einer letzten Korrektur unterziehen konnte. Doch ist davon in dieser Folge von Essays über die Krise unserer Kultur wenig zu merken. Denn sie sind so elegant formuliert, von so großer Belesenheit getragen wie seine früheren, seit 1966 erschienenen neun Bände kulturpolitischer Betrachtungen.

Das Wort, der Begriff "Kultur" allerdings ist ein höchst schlüpfriger in einer Vielzahl von verschiedenen Bedeutungen ge- und mißbrauchter. Ich habe mit ihm darüber oft und intensiv diskutiert. Für mich, der geistig heute weitgehend im angelsächsischen Raum zu Hause ist, bezeichnet Kultur vor allem die Gesamtheit der Ausdrucksformen einer sozialen Struktur - die Art, wie Menschen essen, sich waschen, wie sie sich kleiden; Manieren, Umgangsformen, Lebensgewohnheiten gehören ebenso dazu wie Religion, Wissenschaft, Kunst (inklusive Kitsch), Radio und Fernsehen, Pop-Musik, Literatur (inklusive Trivialliteratur, inklusive Pornographie) dieser Gesellschaft.

Für Kraus, der sein Leben lang auf dem weit engeren Gebiet der Kulturpolitik und staatlichen Kunstförderung tätig war, aber bedeutet Kultur, wie er hier sagt, den "Bereich der Werte, der Ideale, der Wünsche. Hier erwachen und bilden sich die Lebensziele, die Vorstellungen von Lebenssinn. Kultur ist humaner Inhalt, der sich im realen Leben ausdrückt und in den Künsten spiegeln kann (aber nicht muß)."(S. 36) Die drei Worte in der Klammer weisen auf die Problematik dieser Definition von "Kultur" hin. Wenn Kultur ein rein positiver Begriff ist, also nur den Bereich der Hochkultur umreißt, wohin gehört dann die Kunst, die diesen höchsten Ansprüchen nicht genügt? Sie wird dann Anti-Kultur, Anti-Kunst, Nicht-Kultur, Nicht-Kunst. Und Kraus sieht in ihr dann einen Angriff auf die höheren Werte, ein Instrument zu ihrer Zerstörung.

In mehreren seiner Essays befaßt sich Kraus hier mit diesem Problem: Gehört "schlechte" Kunst noch zur Kultur (in seinem Sinne) und wie ist "schlechte", destruktive Kunst zu definieren? Er hat sicher recht, Kubismus, Dada und ähnliche Strömungen waren bewußt bestrebt, die bürgerliche Gesellschaft zu unterminieren, aber sind deshalb Erscheinungen wie Duchamp oder Kokoschka keine echten Künstler? Gehören sie nicht in das Feld der Kultur (sogar wie sie Kraus, als Bereich höchster Werte, definiert)?

Dazu kommt noch die Frage: Sind solche Bestrebungen, die "Kultur" von innen her auszuhöhlen, letzten Endes politisch motiviert? Ist etwa ein Intendant, der ein traditionsreiches Haus durch postmodernistische Inszenierungen degradiert, bewußt darauf aus, die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, oder ist er bloß künstlerisch oder administrativ nicht ganz auf der Höhe? Und haben Kulturbehörden, die ihn einsetzten und halten, dies bewußt mit dieser spezifischen Absicht getan?

Daß gerade im deutschsprachigen Kulturbetrieb in den sechziger oder siebziger Jahren viele Bestrebungen dieser Art von Drahtziehern in den konspirativen Kulturstellen der DDR materiell und ideologisch in Gang gesetzt wurden, steht, wie Kraus betont und auch überzeugend dokumentiert, außer Frage. Aber allzu weit sollte man, meines Erachtens, diese Konspirationstheorie nicht verallgemeinern.

Ob allerdings solche Zersetzungserscheinungen das Produkt von Konspiration sind oder nicht, ihre Wirkung ist jedenfalls negativ, und Wolfgang Kraus hat sicher recht: Die Kultur als der Bereich der höchsten Lebenswerte muß gerettet werden - weil sie allein uns retten kann vor der geistigen und ethischen Verwahrlosung, der scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden intellektuellen Verdummung und Trivialisierung aller Lebenssphären in unserer von den Massenmedien dominierten Epoche.

Kraus, dessen Tätigkeit ihn in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens immer wieder in die Länder Ost-Europas geführt hat, beschreibt in diesem Zusammenhang besonders eindringlich die Paradoxien und Ironien der Situation in der ehemaligen Sowjet-Sphäre. Dort hatte der Staat die "Kultur" - Theater, Museen, Akademien, Verlage - hoch subventioniert, weil sie ihm unentbehrlich war zu seiner Legitimierung als Instrument der Manipulation des Bewußtseins der Bevölkerung. Innerhalb dieser Institutionen jedoch blieb immer noch ein gewisser Freiraum für dissidente Ideen: im Theater, im Kabarett, in Zeitschriften, wo man zwischen den Zeilen lesen konnte. Das gab den Institutionen der Hochkultur in diesen Ländern eine besondere Bedeutung. Der Zusammenbruch des Kommunismus aber brachte neben der geistigen Freiheit nicht nur weitgehend den Ausfall der hohen Subventionierung, sondern auch eine Abwertung dieser so wichtigen Rolle der Kunst und Literatur - gleichzeitig mit dem Einbruch aller Erscheinungen der westlichen Trivialkultur - den kommerziellen Schmutz und Schund der Massenmedien, Pop-Musik, Coca Cola und Mc Donald's ...

"Markierungen zu einem neuen Humanismus" lautet der Untertitel von Kraus' Vermächtnis. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der immer bedrohlicher werdenden Entwicklung in West und Ost kann er nur die Richtung zeigen - wie die Markierungen auf einem Wanderweg durch einen dunklen Wald den Weg ins Freie anzeigen.

Wohin führt nun, in Wolfgang Kraus' Sicht, dieser Weg? Für ihn, den gläubigen Katholiken, zu einer Haltung, in der sich Rationalität, Wissenschaftsglaube und Streben nach materiellem Wohlstand die Waage halten mit dem Bewußtsein, daß ein realistisches Verhalten zur Wirklichkeit nur möglich ist, wenn der Mensch die Beschränktheit seiner Fähigkeiten und Wichtigkeit einsieht und mit Demut und Schauder vor der Erhabenheit und dem Mysterium der Welt erfüllt ist. Mit anderen Worten: in einer religiösen Haltung.

Dabei aber ist er sehr vorsichtig, sich nicht allzu fest auf eine spezifische Religiosität festzulegen. Er zeigt, daß die moderne Tiefenpsychologie von Freud bis Frankl immer mehr auf die Rolle solcher Emotionen für die seelische Gesundheit des Menschen hinweist, daß ein Denker wie Wittgenstein, der ja darauf bestand, daß man über die Dinge, über die man nicht sprechen kann, schweigen soll, die Sphäre dieses Schweigens immer wieder "Gott" genannt hat.

Eine solche Art von religiöser Haltung allerdings - eine mystische "via negativa" - ist nur wenigen Auserwählten zugänglich. Ob allerdings die heute in der realen Welt operierenden Religionen, die im Augenblick in ihrer Konzentration auf legalistische Spitzfindigkeiten vertrocknen, den breiten Massen der Medienwelt eine solche Art von tiefen Ewigkeitsschauern vermitteln können, bleibt, scheint mir, doch mehr als fraglich.

Rettung Kultur. Markierungen zu einem neuen Humanismus. Von Wolfgang Kraus. Böhlau Verlag, Wien, Köln. Weimar. 174 Seiten, öS 298,

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