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Die Welt Ja drauß en

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„Kommt, Kinder, ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen. Reicht mir das wollene Umschlagtuch herüber, ich will versuchen, mich aufzusetzen. Setzt euch neben mich, eure Mutter möchte euch nah bei sich haben. Ihr müßt aufmerksam auf das hören, was sie euch sagt.“

Die Kinder brachten das Tuch ans Bett und die sterbende Frau hüllte es um ihre Schultern.

„Ihr wißt doch noch, was wir gestern besprochen haben?“ Die Kinder nickten. „Peter wird also den Dollar nehmen und ihr besucht eure Tante Pauline und spielt mit Jerry. Wird das nicht lustig sein?“

Die Kinder nickten, denn sie wußten, daß Jerry, der hochbeinige Drahtterrier, immer bereit zum Spielen war.

„Ihr werdet dort schlafen und Jerry wird bei euch schlafen. Eure Mutter wird nicht bei euch sein, also müßt ihr euch wie Erwachsene benehmen. Wenn ihr nachts ein Glas Wasser oder sonst was wollt, stört nicht eure Tante im Schlaf. Dreht nur eben das Licht an und holt es euch selbst. Und eure Tante wird euch liebhaben und ihr müßt immer fest daran denken, auch sie lieb zu haben. Und sie wird sehr nett zu euch sein, das weiß ich, und ihr müßt auch tun, was sie euch sagt. Sie, wird euch in die Schule schicken. Ihr wollt doch in die Schule gehen und mit anderen Kindern spielen, nicht wahr?“

„Jawohl, Mammi“, sagte Peter, während Ellen mit ihrem flachshaarig bezopften Kopf nickte.

„Ihr erinnert euch, Kinder, wo eure Tante Pauline wohnt und wie man dorthin kommt?“ Sie nickten. „Geh, Peter, hol den Dollar aus der obersten Schreibtischlade.“ Peter löste sich von der Seite seiner Mutter und brachte die verlangte Schachtel. „Du wirst den Dollar auch bestimmt nicht verlieren? Und du, Ellen, paß auf, wo er ihn hingesteckt hat, damit er weiß, in welcher Tasche er ist.“

Sie öffnete die Schachtel, die er ans Bett gebracht hatte. „Jetzt, das hier ist wichtig; Ellen, Liebling, hier ist ein Brief, den du deiner Tante gibst, wenn du hinkommst. Du siehst, Name und Adresse stehen darauf. Du kannst ihn in die Manteltasche stecken. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr vom Bahnhof kommt, und nicht über die Straße gehen, bis das Verkehrslicht wechselt. Und Peter, du nimmst Ellen bei der Hand.“

„Jawohl, Mammi.“

„So, nun habe ich noch etwas Hübsches für jeden von euch. Hier, Peter, ist die Uhr und die Kette deines Vaters. Gib gut acht darauf. Ich zieh sie dir auf und stelle sie für dich, und morgen kannst du sie selber aufziehen. So, jetzt. Und erinnert ihr euch, wie der Name eures Vaters lautete?“

„George“, sagten sie beide sofort.

„Ja. Behaltet immer seinen Namen im Gedächtnis. Und hier, Ellen, ist das Medaillon deiner Großmutter. Ehe ich es dir umlege, möchte ich diesen Ring auf die Kette fädeln. Eines Tages kannst du ihn vielleicht brauchen. So, das ist alles, was eure Mutter euch zu geben hat. Sie würde euch gern viel mehr geben, aber das Beste, was ich euch jetzt geben kann, ist, euch wieder in die Schule zu schicken. Sie hat euch zu lange daheim behalten und ihr habt gut für sie gesorgt. Und jetzt geht ihr weiter in die Schule und eure Tante Pauline und Onkel Fred werden viel bester für euch sorgen als scnüwer. Und eure Mamn.i geht fort auf eine lange, lange Reise.“

„Weit fort?“ fragte Ellen.

„Ja, sehr weit.“

„Und du wirst uns besuchen?“ j.Ich werde es versuchen. Aber ihr werdet auch so brave Kinder sein, und wenn ihr groß leid, werdet ihr alles verstehen. Und, Peter, du mußt mir versprechen, dich immer gut um deine Schwester zu kümmern. Sie wird dich liebhaben, wie ich dich liebgehabt habe, und diese Liebe wird dich zu einem starken, tüchtigen Manne . machen. Wenn ihr zusammenhaltet, gibt es keine Macht der Welt, die euch unterkriegen könnte. Deshalb müßt ihr mir versprechen, nie zu streiten, was auch der Grund sein mag. Das versprecht ihr mir, nicht wahr?“

„Ja, Mammi.“

„Und du, Ellen, bald wirst du eine kleine Dame sein und wirst zusehen, daß dein Bruder sich nicht erkältet oder Dummheiten macht.“ Sie nickte mit dem Kopf. „Dann ist da nichts mehr zu sagen. Jetzt umarmt eure Mutter fest, gebt ihr einen Kuß und zieht euren Hut und Mantel an.“

Sie umarmte ihre Kinder und küßte sie leidenschaftlich. Ihre Kraft war am Ende und sie ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Als die Kinder fertig zum Fortgehen waren, sagte sie mit schwacher Stimme: „Versucht tapfer zu sein. Eure Mammi versucht ehrlich, tapfer zu sein, und sie möchte, daß ihr das auch versucht.“

„Ja, Mammi“, sagten beide gleichzeitig.

„Geht jetzt und laßt die Tür einen Spalt offen. Und, Peter, nimm deine Schwester bei der Hand, wenn ihr unten seid.“ Die Kinder standen an der Tür und winkten ihrer Mutter. Sie sahen ihr Lächeln und lächelten zurück; es war kein Lächeln übers ganze Gesicht, nur eben ein kleines, zaghaftes Lächeln. Während sie die Treppe hinunterstiegen, blieb Ellen plötzlich stehen, schwenkte den Arm und rief: „Leb wohl, Mammi!“

• „Sie kann dich von hier aus nicht sehen“, sagte Peter. „Komm jetzt!“

Sobald sich die Türe geschlossen hatte, tonnte sich die Frau im Bett nicht länger beherrschen. Gußeisen wäre schon längst geschmolzen. Sie steckte die Finger in den Mund und schluchzte. Jetzt war das letzte Band zerrissen, und es schien ganz leicht, die Glieder zu strecken und die Augen zu schließen.

Es war ein Dutzend Häuserblocks weit bis zum Bahnhof, und die Kinder legten diesen Weg Hand in Hand zurück. Einmal blieben sie vor einem Kino stehen und sahen das grellfarbene Plakat an, auf dem ein Mann eine Frau in die Arme schloß. Das war auch eine Art Liebe, aber Sie haßten diese Liebe und fanden sie ganz unnötig. Es war nicht die Liebe ihrer Mutter. Sie hielten sich nicht lange auf.

Sie gingen zum Auskunftsschalter und zeigten 3en Brief. Der Beamte rief einen schwarzen Träger herbei, der sie zu einem Fahrkartenschalter brachte und ihnen zwei halbe Karten nach Fairwood kaufte. Es blieb ein wenig Wechselgeld von dem Dollar übrig. Wie sie durch die große Bahnhofshalle gingen, zog Peter die silberne Taschenuhr heraus und verglich sie mit der Bahnhofsuhr. Während sie den Bahnsteig hinuntergingen, sagte der Träger zu den Kindern: „Wo ist eure Mutter?“

„Sie ist fortgegangen.“

„Auf eine Reise?“

„Sie ist dahin gegangen, wohin die Menschen gehen, wenn sie sterben.“

„Ach, so also steht's.“

„Jawohl, ja. Sie wollte es uns nicht sagen, aber wir wissen es.“ Und Ellen nickte mit dem Kopf, um zu bestätigen, daß es wahr sei.

Jerry zersprang fast vor Begeisterung, als er die Kinder Hand in Hand den Zufahrtsweg daherkommen sah. Er wußte jetzt, daß er jemand zum Spielen haben würde.

„Was, die Kinder! Ihr Lieben!“ rief Mm. Monroe und schloß jedes in ihre Arme und gab ihm einen Kuß. „Eure Mutter hat euch wohl hergeschickt, weil sie weiß, wie gerne wir euch haben.“ Die Kinder schwiegen. „Ist sie wohlauf?“ Peter nickte, als sei alles in Ordnung. Mrs. Monroe läutete dem Mädchen und ließ Kuchen und Obst bringen, denn obwohl sie keine eigenen Kinder hatte, wußte sie doch, daß Kinder oft zu ungereimter Zeit Hunger hatten.

Die Kinder brannten darauf, mit Jerry zu spielen, und beeilten sich deshalb mit dem Kuchen und Obst. Dann folgte eine ganze Stunde fröhlichen Herumtollens auf der Wiese. Plötzlich fiel Peter der Brief ein und er erinnerte Ellen daran. Sie ging ins Haus zum Wandschrank in der Diele, zog ihn aus ihrer Manteltasche und gab ihn der Tante. Diese öffnete den Brief und las: „Pauline, hier sind die Kinder. Ich kann sie nicht mit mir nehmen, und sie sind zu alt, um sie auf einer Türschwelle auszusetzen. Ich habe Deine letzten Briefe ungeöffnet zurückgeschickt, denn es hatte wirklich keinen Zweck. Du kannst nichts ändern und ich bin es müde. Deine anzüglichen Bemerkungen anzuhören. Jawohl, Pauline, ich habe einen Trinker geheiratet. Aber solange er lebte, waren wir glücklich, sehr glücklich. Das ist etwas, was Du nie gekannt hast. Dein Mann hat Dir Brillanten und Pelze geschenkt und meiner hat mir nichts hinterlassen als Armut und einen Witwenschleier. Aber ich hatte die Kinder, und wir brachten uns so gut durch, wie wir konnten. Um Gottes Barmherzigkeit, Pauline, die Kinder sind unschuldig. Wirf ihnen nicht vor, was Du mir vorwerfen möchtest. Wenn Du sie liebst, werden sie Dir viel Glück bereiten. Mehr könnte ich niemandem hinterlassen. Deine Schwester Laura.“

Ellen stand neben ihrer Tante und beobachtete sie. „Weißt du, was in dem Brief steht?“ Ellen nickte. Jawohl, sie wußte es. Wie das Kind mit dem Kopf nickte, bemerkte die Tante, daß es die alte Kette mit dem Medaillon anhatte, die einst ihre Mutter getragen hatte. Sie küßte das Kind und ging rasch ans Telephon, um ihren Mann anzurufen. „Fred, Fred! Ich bin froh, daß ich dich noch erreicht habe, ehe du aus der Stadt weg bist. Die Kinder sind da ... Ja. Etwa vor einer Stunde.“

„Ich freue mich, daß du dich endlich mit deiner Schwester versöhnt hast. Ich habe die Kinder vermißt“, rief er vom anderen Ende. „Nein, ich habe mich nicht versöhnt. Hör zu. Die Kinder sind für immer hier. Bitte, nimm sofort ein Taxi und fahr zu ihr. Nein, sie hat kein Telephon. Und ruf mich von dort aus an.

Tu alles Nötige. Auf Wiedersehen.“ Fred Monroe kam an der Wohnung an, aber der Besucher Tod war ihm zuvorgekommen. Noch stand die Türe einen kleinen Spalt weit offen. Es gab eine Menge Dinge zu erledigen, und es war reichlich spät am Abend, als Onkel Fred nach Fairwoods zurückkam. „Jawohl“, sagte er, „ich habe alles Notwendige getan. Schlafen die Kinder?“

„Ich habe sie vor einer Stunde ins Bett gebracht.“

„Onkel Fred“, kam ein Stimmchen aus einer der oberen Schlafzimmer.

„Ja, Liebling, ich komme.“

Die Kinder schliefen durchaus nicht. Und ihr Onkel war sehr glücklich, sie zu sehen. Nach einer Weile fragte Ellen: „Hast du Mammi gesehen?“ Ihr Onkel wollte nicht antworten. „Sie hat uns gesagt, wir sollen tapfer sein“, meinte Peter. „Und somit wissen wir alles.“

Das schien alles, was gesagt werden mußte. Die Kinder gingen bald wieder zu Bett, schlössen die Augen und schliefen ein. Sie schliefen fest und träumten von schonen Sachen. Dann kam die Sonne herauf, um den Anbruch eines neuen Tages zu verkünden.

Bald waren sie alle mit dem Gummiball im Garten. Sie schienen dieses Spiels nie müde zu werden. Ellen hielt einen Augenblick inne und fragte ihren Bruder: „Kommt. Mammi nicht zurück?“ Er schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht?“ fragte sie.

„Nein, sie kommt nicht zurück.“

„Was soll das heißen, wenn sie sagen: die ganze Welt da draußen?“

„Ich weiß es nicht.“ Er gab ihr den Ball und sie spielten weiter.

(Ams dem Amerikanischen von Hans B. Wagenseil)

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