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Die Auserwahlcn

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Sie bewegten sich zu der kleinen Osteria, links am Hafen, die an den Molo gebaut war. Sie schwatzten allerlei, um es nicht merken zu lassen, wie sehr jeder sich freute, daß der andere auch wirklich gekommen war. Paolo, der in der Mitte ging, sagte manchmal: „Nicht so schnell, Freunde, damit ich euch nicht verliere“, und zupfte sie an den Ärmeln. Er war blind und ging zwischen den beiden Einbeinigen, die mit ihren Krücken einherhopsten wie große Grashüpfer. Sie waren guter Dinge, schnalzten mit den Zungen und schauten fröhlich aus dem Kopfe, das heißt. Paolo zwinkerte nur lustig mit seinen Augendeckeln. Der Wirt begrüßte sie munter. „Sehr geehrt, sehr geehrt“, sagte er, und: „Willkommen, Herren! Eine Flasche?“ — „Ja, eine Flasche inzwischen, Alter“, antwortete Ardengo, lehnte seine Krücken sorgfältig an eine Kastanie und setzte sich. Paolo und Marino taten desgleichen. „Signor Madagliano kommt später?“ fragte der Padrone. „Pietro kommt später“, entgegneten sie.

Pietro, der noch Abwesende, war weder Wind noch fehlte ihm eines seiner Glieder, dennoch hatte er den größten Schaden an seinem Leibe erfahren. Eine Stichflamme hatte seinen Schädel zur Ruine gemacht. Wo einst Haut und Fleisch ihren Sitz gehabt, spannte sich jetzt nur eine erbärmlich glänzende Haut über den Knochen, wie eine eingetrocknete Schweinsblase. An Stelle des Mundes, der Nase und der Obren waren nur kleine, schwarze Löcher geblieben, der Kopf war zu einem grausigen Totenschädel zusammengeschrumpft. Auf Pietro warteten sie nun. Sie erzählten sich einige Begebenheiten, die vorgefallen waren, seitdem sie sich zum letzten Male gesehen hatten, was alle 14 Tage geschah. Dann verstummten sie.

„Da leben wir wie die Hunde“, sagte Ardengo nach einer Weile, „alles haben wir dem Vaterland gegeben, alles hat das Vaterland gefressen. Und was gibt das Vaterland uns heute?“ Die anderen antworteten nicht, sie rauchten und hielten die Gläser mit ihren braunen Fäusten fest. „Einen Dreck“, sagte Marino endlich und trank langsam seinen Wein aus. „Früher hab' ich im Steinbruch gearbeitet und hab' alles gehabt, was ich brauchte. Ich konnte heiraten, wenn ich wollte. Und heute? Ich kann froh sein, daß ich bei Seiner Gnaden, dem Flickschuster, aushelfen kann für ein paar schmutzige Lire im Tag. Und wenn es ihm nicht mehr paßt, liege ich auf der Straße. — Der Bankier Colomma. dieser fette Sohn einer fetten Hündin, hat ein Fest gegeben, das hat mehr gekostet, als ich in meinem Leben essen und trinken kann, und wenn ich hundert Jahre alt werde“, knurrte Marino. „Ein herrliches Vaterland, eine herrliche Welt.“ — „Ich wundere mich nur, daß Gott es zuläßt“, seufzte der Blinde, „die einen haben alles, die anderen nichts.“ Da schlugen Ardengo und Marino auf den Tisch, daß die Gläser hüpften, und sie lachten ein so bitteres Gelächter, daß die Heiligen in den Kirchen, die es anging, hätten erröten müssen, wenn ihre Herzen nicht aus Holz oder Stein gewesen wären.

„Gott kümmert sich nicht um uns arme Hunde“, sagte Ardengo mürrisch, „jedenfalls tut Er nichts, damit es gerecht zugeht.“ - „Und dabei hätte Er's so leicht“, phantasierte der Blinde und hob seinen augenlosen Kopf zum Himmel, als sähe er das Paradies, „Er brauchte nur zu sagen: Gerechtigkeit! Gar nicht besonders und mit lauter Stimme. Er brauchte es nur zu sagen und schon wäre es. Und wir hätten immer unser warmes Essen, eine gute Arbeit und was wir brauchen. O Maria, warum tut Er's nicht?“ - „Weil wir arme Kerle sind, nach denen kein Hahn kräht, wenn wir in der Gosse verrecken, das ist's“, belehrte ihn Marino. ..Die hohen Herren haben zehn Ärzte und hundert Bediente, wenn sie wollen“, rief Ardengo, „die haben wahrscheinlich auch zehn Engel, die auf sie achtgeben, denn sie sind wichtig. Wir aber sind nicht wichtig. Wenn ihnen was passiert, kriegen sie ein Mausoleum aus Marmor. Wenn wir krepieren, pißt uns der Hund an.“ — „Und doch wundert mich das alles“, sagte der Blinde, „denn Jesus war doch auch so arm wie wir, Er könnte doch Gott daran erinnern, wie miserabel es uns geht.“ — „Jesus?“ lachte Ardengo, „das ist schon so lange her, daß es gar nicht mehr wahr ist. Ja, wenn Jesus hier wäre, der hätte sich getraut, Er hätte den Colomma, das Schwein, mit der Peitsche aus der Prozession hinausgejagt.“ — „Vielleicht werde ich zu den Kommunisten gehen“, meinte der Blinde und tastete nach einem Glas. „Wer weiß, was Pietro über die Sache denkt. Ob er auch wirklich kommt, heute?“ — „Natürlich kommt er“, wiesen ihn die anderen zurecht, „wenn Pietro sagt, er kommt, dann ist es sicher.“ — „Eine verrückte Zeit, eine ganz verrückte Zeit“, stöhnte der Blinde.

Als hätten sie ihn mit ihrem Reden herbeigezogen, tauchte in diesem Augenblick Pietro auf. Seine hagere Gestalt wehte wie ein weißes Segel um eine Ecke, er kam schnell näher. Sein ausgetrockneter Totenkopf sah zum Fürchten aus. Ardengo und Marino mußten sich neu an seinen Anblick gewöhnen, nur Paolo, der Blinde, blieb von ihrem Schauder unberührt, er hörte nur die Stimm des Freundes, die ihm wohltat. Man schüttelte einander die Hände, man klopfte sich auf die Schulter, man setzte sich und schrie dem Padrone zu, er möge gleich eine zweite Flasche bringen.

Und alsbald unterbreiteten sie Pietro ihr Gespräch und ihre Enttäuschungen und ihren Zorn. Der Totenkopf war ihr Meister, wenn es um Worte und Gedanken und besondere Dinge ging. Er schlug die Beine übereinander, rauchte, kratzte sich hinter der Stelle, wo früher sein Ohr gewesen war, seufzte und begann schließlich mit seiner tiefen Stimme zu reden.

„Ja, Freunde, das ist mir alles auch schon tausendmal durch meinen hübschen Schädel gegangen. Ich weiß nicht ganz sicher, ob ich recht habe mit meinen Gedanken, aber ich glaube eigentlich schon. Wie ich im Krieg nach der Sache da zum erstenmal in den Spiegel geschaut hab', hab' ich gemeint, ich werd' irrsinnig. Ich hab' einen Sanitäter in den Arm gebissen, ein ganzer Haufen war nötig, daß sie mich haben ans Bett binden können.“ — „Oh“, flüsterte der Blinde, „das muß eine schreckliche Minute gewesen sein.“ — „Ich will mich nicht brüsten“, sagte der Totenkopf, „aber es war furchtbar. Das vf&r ja nicht ich, dort im Spiegel, das war ein fremdes Wesen, ein Gespenst, tot und kalt, daß ich mich anstarrte, kein Gesicht, sondern, eine Fratze, die nichts von meiner Seele wußte.“ — „Ich weiß nicht, ob ich's überlebt hätte“, sagte Marino. „Man überlebt alles“, antwortete Ardengo. „auch ich hab' am Anfang gemeint, ich ertrag's nicht, dann ertrug ich's doch.“ — „Ja, so ist es“, sagte der Totenkopf, „man erträgt es doch. Aber fragt nicht, wie. Und ich dachte immer wieder über mein Leben nach, es mußte eine Strafe sein, weil ich so aussah. Eine Strafe. Aber ich fand nichts, wofür ich das verdient hätte.“ — „Ich finde auch nichts“, sagte Marino. „Ich auch nicht“, sagte Ardengo. „Auch ich finde nichts“, sagte der Blinde, „ich hab' nichts Besonderes getan.“ — „Nun ist die Sache so“, sprach der Totenkopf weiter, „ich bekam einen großen Haß auf alle Menschen, die schöner waren als ich, wozu ia nicht viel gehört. Ich hätte sie am •rstochen und in den Dreck getreten, ^or mir liefen die Weiher davon. Ich torkelte einmal betrunken nach Hause, zur Mutter, und ich sagte ihr von meinem Haß und alles. Da sagte sie, und sie streichelte mich dabei, sie sagte, daß ich närrisch sei, niemand könnte mein Herz stehlen, und das ganze sei nur eine Prüfung, wie ich es aufnehmen würde, eine Prüfung, ob ich nun schlecht werden würde. Da ist es dann langsam besser geworden. Ich glaube, daß die Mama recht hatte.“ — „Und warum wird Colomma, das Schwein, warum wird er nicht geprüft?“ fragte der Blinde. „Das weiß ich nicht“, entgegnete der Totenkopf, „vielleicht wird er anders geprüft, vielleicht ist er's gar nicht mehr wert. Aber es ist da noch etwas anderes. Hört zu. Da sitze ich einmal am Molo, am Sonntag, und es kommt einer daher und bettelt. Zu allen geht er, so ein Lausekerl, ein Ladrone, dem nichts fehlt, der nur nicht arbeiten will. Niemand hat ihm was gegeben von den Leuten, die in der Sonne saßen, und zu mir ist er nicht gekommen. Entweder, weil er sich gefürchtet hat, oder weil er meinte, einer, der aussieht wie ich, muß ein armes Luder sein. Und das stimmt ja auch. Ich hab' aber doch Mitleid mit ihm bekommen und gedacht, wenn einer gesund und jung ist und betteln geht, dann muß es schlimm stehen mit ihm. Und ich bin ihm nach und hab' ihm 500 Lire gegeben. Was meint ihr, was geschah?“ — „Er hat s' genommen und ist s' versaufen gegangen“, meinte Ardengo. „Nein“, sagte der Totenkopf, „er hat s' nicht genommen, und er hat geweint wie ein Kind. ,Daß du mir was gibst, daß du mir was gibst, ausgerechnet du', sagte er immer wieder. ,Ich bin ein Lump, ein Lump bin ich.' Da mußte ich lachen. ,Du bist gar kein Lump', sagte ich, ,du bist bloß ein Narr und machst dich kaputt mit dem Betteln. Und darum tust du mir leid und darum geb' ich dir was. Nimm den Fetzen und besauf dich.' Da schaute er mich groß an und lief davon.“ — „Wahrscheinlich hat er schon Geld genug gehabt für einen Rausch“, sagte Marino. „Ich weiß es nicht“, antwortete der Totenkopf, „jedenfalls arbeitet er jetzt wieder. Und er arbeitet gut und er bettelt nicht, der Junge.“

Die anderen' schwiegen. „Merkwürdige Geschichte“, meinte der Blinde.

„Und wie mir das passiert ist“, sagte der Totenkopf, „war ich sicher, daß meine Larve keine Strafe ist, und ich glaube auch, daß sie mehr ist als eine Prüfung; Wißt ihr, was ich glaube? Es ist eine Auserwählung. Ich hab' an dem Lauskerl vollbracht, was keiner fertiggebracht hätte in der ganzen Stadt, ich mit meinem ausgetrockneten Kürbiskopf. Das hat etwas zu bedeuten. Wenn ich gehässig bin und geifere, wenn ich saufe und unter dem Tisch liege, da wundert sich niemand, da denken sich die Leute, es muß so sein. Aber wenn ich gut bin und freundlich und mein Letztes teile, dann denken sie, ein Wunder ist unterwegs, und schämen sich und machen's nach, wenn sie's können. Darum ist es so mit uns, daß es bei uns selbst liegt, ob wir die Auserwählung kapieren oder ob wir Bestien werden und damit die Strafe haben.“

„Feine Gedanken hast du“, rief Ardengo, „ich fühle mich jetzt ordentlich wohl, weil ich ein Krüppel bin.“ Alle lachten, und sie tranken noch ein Glas.

„Wißt ihr was?“ sagte der Blinde, ein wenig unsicher, ein wenig schüchtern wie immer. „Wißt ihr was? Wir sind ein Krüppelhilfsklub. Ein Krüppelklub, der den Nichtkrüppeln hilft.“

„Ja“, sagte Marino nach einer Weile. „Ja“, sagte auch Ardengo, und der Totenkopf grinste, daß es dem Wirt den Magen umdrehen wollte. „Wißt ihr was“, sagte der Blinde. „Wißt ihr was? Wir ziehen ein Waisenkind auf, so einen armen Wurm. Und vielleicht noch eins dazu, wenn's geht.“ — „Gut, Paolo“, riefen die anderen und klopften ihm auf die Schultern. Dann tranken sie den Wein aus. der auf dem Tische stand. Dann zahlten sie und standen auf. Dann spazierten sie, eingehängt, so gut es ging, im Mondschein durch die weiße Stadt und sangen. Wahrhaftig, sie sangen, ohne daß sie betrunken waren.

Ardengo, das Einbein. Marino, das andere Einbein. Paolo, der Blinde, und Pietro, der Totenkopf.

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