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Wann beginnt christliche Ehe?

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Wann beginnt nach Auffassung der 1 katholischen Kirche die Ehe? In der dogmatischen Theorie ist die Frage leicht zu beantworten. Für den Beginn des Sakraments der Ehe sind bekanntlich zwei Bedingungen unerläßlich: I. das Ja der Brautleute vor dem Priester und zwei Trauzeugen und 2. die danach vollzogene geschlechtliche Vereinigung.

Erst wenn diese beiden Bedingungen in der genannten Reihenfolge erfüllt sind, beginnt die Ehe. Soweit die dogmatische Theorie.

Die menschliche Praxis sieht heute jedoch oft ganz anders aus, vor allem im Hinblick auf die Reihenfolge der beiden unerläßlichen Bedingungen: zuerst die geschlechtliche Vereinigung - und einige Wochen, Monate oder gar Jahre danach geht man zum Priester, um das, was man leiblich schon begonnen hat, nachträglich noch kirchlichsa-'kramental bestätigen zu lassen.

Soll man daher die Theorie der Praxis anpassen? Ist es nicht kleinlich, wenn man eine Theorie um der Theorie willen künstlich aufrecht erhält, ohne die Macht des Faktischen zu berücksichtigen? Solche Fragen werden offen gestellt. Den Kopf in den Sand zu stekken, nützt nichts.

Zunächst muß man wohl sagen, daß es ein beliebtes Denkmodell ist, Theorie als lebensfremd zu disqualifizieren, um der Praxis und der vielbeschworenen „Macht des Faktischen" zum Durchbruch zu verhelfen. Schon Goethe meinte in seinem „Faust", alle Theorie sei grau. Indes kann wohl niemand im Ernst behaupten, die Wirklichkeit sei nur deswegen zu bejahen, weil sie Wirklichkeit ist.

Denn das Faktische, die Praxis, sie können sich doch kaum nur durch sich selbst rechtfertigen. Wäre dem so, dann gäbe es keine sinnvolle Möglichkeit, z. B. an den stalinistischen und national-sozialistischen Verbrechen etwas Böses zu entdecken. Denn sie waren ja bekanntlich eine Wirklichkeit...

Wirklichkeit ist also nicht eindimensional „theoretisch" bezw. „praktisch". Wirklichkeit ist mehrdimensional, eine auf Sinnerfüllung angelegte Spannung zwischen sterilem Erstarren im rein Theoretischen bezw. rein Praktischen.

Wie aber sieht die sinnerfüllende, mehrdimensionale Wirklichkeit der Liebe aus? Wann beginnt die Liebe, wann wird die Liebe zur Treue in der Institution sakramentaler Ehe zwischen zwei getauften Christen?

Der heilige Augustinus, der nicht nur philosophisch und theologisch etwas von Liebe verstanden hat, sondern Liebe auch praktisch und menschlich erlebt hat, prägte bekanntlich ein mutiges Wort: „Liebe - und dann kannst du tun, was du willst!"

Man kann das wagemutige Wort mißverstehen. Bei genauem Hinhören aber entdeckt man, daß Liebe das Fundament der Wirklichkeit ist. Wer wirklich liebt, der ist tatsächlich ungebunden und frei. Er liebt aus Freiheit - und nicht aus einer neurotischen Zwangsvorstellung oder einem Modetrend heraus ...

Sowohl im jüdischen wie auch außerbiblischen Bereich war die Ehe weithin individuellen Wünschen entzogen. Sie hatte vor allem rechtlichen und finanziell-wirtschaftlichen Charakter innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften, Stämme, Großfamilien u. s. w.

Das Neue Testament brachte eine Vertiefung im Hinblick auf die Einehe. Auffallend ist im Neuen Testament die theologisch-religiöse Begründung von Liebe und Ehe.

Da bis in die Neuzeit hinein Mitteleuropa in der Hauptsache bäuerlichhandwerkliche Strukturen aufwies, spielte das personale, individuelle Moment bei Liebe und Ehe kaum eine Rolle, aber in allmählich wachsende Intensität die neutestamentliche Begründung.

Erst die durch Technisierung und Industrialisierung bedingte Mobilität der Menschen löste in den großen Städten und heute auch auf den Dörfern allmählich die alten Traditionen und Bindungen auf.

Viele Menschen leben isoliert, anonym und entbehren des Schutzes uralter Traditionen und Moralvorstellungen. Viele sehen darin einen Fortschritt, nicht wenige aber spüren darin eine Gefahr.

Liebe und Ehe sind zwar beweglicher, individueller und personaler geworden, aber auch gefährdeter. Mann und Frau werden in der Ehe immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen.

Die neue Situation in den Industrieländern hat für die Jugend etwas Prik-kelndes und Verführerisches an sich. Viele machen, was sie wollen. Sie sind ja frei. Alte moralische Vorstellungen sind zusammengeschmolzen. Allein auf sich selbst gestellt, fangen viele Jugendliche an, die Liebe auszuprobieren.

Geht's gut, dann kann man vielleicht standesamtlich oder gar kirchlich heiraten. Gibt's Schwierigkeiten, dann probiert man das Ganze nochmals mit einem anderen Partner, obwohl der „Probierer" vermutlich sich nicht geändert hat.

Solche und ähnliche Praktiken sind manchmal besser als ihr Ruf. Viel echte und wirkliche Liebessehnsuchtstecktoft dahinter. Denn junge Menschen pflegen einander ja nicht nur aus Zeitvertreib zu lieben.

Trotz aller Liebessehnsucht aber breitet sich eine Angst, eine fast unüberwindliche Scheu vor einer öffentlichen und institutionalisierten endgültigen Bindung aus. Warum?

Viele Jugendliche scheinen untergründig zu spüren, daß ihre Liebespraktiken und Probierereien wesentlich gefährdeter sind als die gute alte Ehe. Angst, Sehnsucht nach menschlicher Geborgenheit treibt sie zusammen inmitten einer Welt, die selber wenig Geborgenheit anzubieten vermag.

Was soll angesichts dieser Situation die Kirche tun? Soll sie wieder zurückgreifen auf die „heimlichen Ehen" des Mittelalters? Oder könnte es ratsam sein, die sogenannten „Gewissensehen" in der pastoralen Praxis zu dulden oder sogar zu begünstigen? Muß man nicht bei manchen „vorehelichen Ehen" von einem „unüberwindlichen Gewissensirrtum" sprechen, weil die Partner das Negative ihres Tuns nicht einsehen wollen?

Oder soll die Kirche großzügig dem Kapitel „Begierdetaufe" ein entsprechend sinngemäßes Ehekapitel mit der Uberschrift „Begierde-Ehe" hinzufügen?

Sicher überlegen sich nicht weniger junge Christen heute ernsthaft, ob sie nicht tatsächlich im Sakrament der Ehe leben, obwohl sie das Ja-Wort vor dem Priester - aus welchen Gründen auch immer - hinausschieben. Manche sagen sich offen: Wenn wir einander wirklich lieben und diese Liebe mit allen Konsequenzen vollziehen, dann spenden wir uns doch das Sakrament der Ehe!

Bei allem Verständnis für solche Argumente scheinen sie doch etwas nicht Unwesentliches zu übersehen: Kirche lebt nicht nur im Raum des Individuellen, des nur Personalen und rein Privaten. Gott ist nicht nur der Gott personaler Einsamkeit, sondern auch der Gott zwischenmenschlicher Verantwortung, der Gott der Völker.

Gott ist ein gemeinschaftsbezogener Gott, weil sein Wesen Liebe ist - und nicht asoziale Vereinsamung.

Es wäre durchaus zu überlegen, ob die Kirche in den kirchenrechtlichen Bestimmungen und in ihrer seelsorgerlichen Praxis diesen Tendenzen nicht in geeigneter und angemessener Weise Rechnung tragen sollte. In der Vergangenheit hat sie, wie die Geschichte des katholischen Eherechts beweist, im Rahmen des Möglichen und Verantwortbaren lebensnahe Großzügigkeit walten lassen, ohne Wesentliches preiszugeben.

Sicher wird die Kirche niemals eheähnliche Praktiken vor der Ehe begünstigen können, - nicht aus Engstirnigkeit, sondern weil man Liebe nicht ausprobieren, sondern immer nur in Verantwortung vollziehen kann.

Aber die Kirche kann nicht gleichgültig zuschauen, wenn viele getaufte Christen und auch Nichtchristen Schwierigkeiten haben mit der Ehe. Es gilt, diese Schwierigkeiten zu sehen und nach rechtlichen Möglichkeiten zu suchen, um die Kluft zwischen vorehelicher Praxis und dem Sakrament der Ehe sinnvoll zu überbrücken: nicht im Sinne einer billigen Anpassungsmoral, sondern um den Weg in die Ehe glaubwürdiger und sinnvoller zu machen. Dies sollte möglich sein, weil wirkliche Liebe zwischen zwei getauften Partnern immer im hilfreichen Zeichen des Sakraments steht.

Der Beitrag ist auch in der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart" (Freiburg i. B.) erschienen.

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