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Der Menschheit Würde

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„Hat er nicht bemerkt, daß des Menschen Würde verdient sein will, daß sie selbst geschaffen sein muß und selbst verantwortet?”

Man denke sich nackt vor der Mušte-' rungskommission: das Haar verwirrt vom eiligen Überziehen der Wäsche, rötliche Rippenfurchen an den Druckstellen der Einzuggummis; rundum zweierlei Wesen menschlicher Abstammung: bekleidete und nackte, die Nackten in dichter Reihe, belämmerte Gesichter oder gefaßte, paramilitärische Haltungen oder ungekünstelte Verwirrung; die Bekleideten in Ornaten, Ärztemänteln und Stethoskop am Hals, oder pralle Uniformen, am Hals höhere Distinktionen; jene im Schutz der Ornate in lässiger Geschäftigkeit; die Schutzlosen schweißnaß unter den Achseln und mit dem Gefühl kalter, klebriger Füße. Besichtigung von vorne, mit Fragen nach Schulen - Zunge heraus - und Kinderkrankheiten. Der Zusammenhang ist unklar. Alles scheint sehr ferne. Zunge hinein - Besichtigung von hinten; und so weiter.

Würde, so fällt einem dabei ein, bezeichnet „die einem Menschen kraft seines inneren Wertes zukommende Bedeutung“ (Brockhaus 1974). Oder; „die ästhetisch anziehende, in Haltung, Benehmen und Sprache sich kundgebende äußere Erscheinung gefestigter Willensgefühle“ (Meyer 1909).

Das Selbptwert-Gefühl steht auf der Probe, und es besteht sie schlecht. Etwas entzogene Hülle, geschneiderte wie standesbezogene, genügt der Verunsicherung - wohingegen jener Selbstwert die Prüfungen des Alltags geradezu mit Selbstgefälligkeit besteht, vielleicht seine Prüfungen gar nicht wahrnimmt.

Zwingen denn die Selbstverständlichkeiten unseres Gemeinwesens nicht zur Defensive, den „Wert des Selbst“ aus dem Spiel zu lassen? Zwingt nicht stets die Klugheit da zu Verdunkelungen, dort zu Koalitionen gegen besseres Gewissen? Ist derlei Gewissen nicht letztlich Sache jenes Wesens, das als „Gemein-Wesen“ deutlich genug gezeichnet ist?

Verpflichten unsere Geschäfte nicht zur selbsterhaltenden Contenance, zum Realismus? Und hat uns ein guter Witz oder Prediger widerlegt, so wird zwar kurz gelacht oder geweint, um nur umso selbstverständlicher zurückzufinden in die harte Realität der Wirklichkeit: in die Wirklichkeit einer gemeingefährlichen Zivilisation, die weder im Straßenverkehr nachgibt noch im Geschäft, in der Politik und schon gar nicht in den Abrüstungskonferenzen.

Da sind die Prüfungen, die unser Selbstwertgefühl meint, nicht einmal wahrnehmen zu müssen. Siebleiben jenem Gemeinwesen überlassen, sie wer den fortdelegiert von der persönlichen Verantwortung.

Ganz anders steht es mit jenen Abhängigkeiten, jenen Prüfungen unseres Selbstwertes, von welchen wir anneh- ,men, sie nicht delegieren zu können. Ein Zufall etwa bringt uns in kümmerlichem Aufzug in eine unbekannte, festlich gekleidete Gesellschaft, oder Persönlichkeiten von Bedeutung, mitten hinein ins Onjnungmachen großer häuslicher Unordnung. Sogleich neigen wir dann zu Erklärungen, in welchen wir versuchen, den Zustand für uns als untypisch erscheinen zu lassen. Dies ist gewiß kleinlich, doch irgendeine Art Würde war’s, die berührt worden ist.

Kleinlicher noch verkehren wir mit jenen unserer Mängel, sollten wir sie als haftend erleben. Welch seltsame Grimasse etwa legt sich einer zu, wenn es ihm darauf ankommt, beim Lachen ei nen Mangel der Schneidezähne zu verbergen. Welch seltsames Deutsch entsteht, wenn im (vermeintlich) feinen Umgang mangelnde Beherrschung des Hochdeutschen kaschiert werden soll; wenn es darauf anzukommen scheint, tiefe Bildungsmängel im (geistreichen) Gespräch zu kompensieren, seine eigene Herkunft zu verleugnen.

Was aber hier noch als „Allzumenschliches“ unsere Nachsicht verdient, schon im nächsten Schritt, in der nächsten Konsequenz wird es unsere Nachsicht in Frage stellen. Dann nämlich, wenn das Verbergen unserer Herkunft etwa die Eltern einschließt. Welch beschämende Situationen sind uns da schon begegnet.

Denkt jener Parvenü, der sich seiner ungebildeten Mutter schämt, daran, mit welch ihr ungewöhnlichen Hoffnungen sie ihn erwartet, mit welchen Schmerzen sie ihn geboren, mit welcher Hingabe sie ihn gesäugt und gepflegt haben mag? Ungeachtet der Tatsache, daß nichts anderes aus ihm werden würde als ein ganz gewöhnlicher Parvenü?

Denkt er, der sich des plumpen Vaters schämt, daß dessen schwere Hände eben am Schaffen jener Welt schwer geworden sind, die ihn hochgespült hat und ihn nun trägt?

Was bürgt dann noch für jene „inneren Werte“ oder jenes „gefestigte Willensgefühl"? Woher, meint er, sollte er diese bezogen haben? Offenbar will er diese von Geburt an besitzen. Was für eine feudalistische Überheblichkeit! Aber verantworten will er sie im Gemeinwesen nicht. Ein Egoismus kurzsichtiger Art, denn er scheint nicht zu sehen, daß er der Sippenhaftung für den kollektiven Unsinn unserer Gesellschaft nicht entgehen kann.

Hat er nicht bemerkt, daß des Menschen Würde verdient sein will, daß sie selbst geschaffen sein muß und selbst verantwortet? Was könnte sie wert sein, wenn sie geschenkt wäre, ein Zufallsprodukt, das nicht einmal verantwortet werden müßte? Und wenn es so wäre, was wollte solch ein vergoldeter Kohlkopf unter lauter vergoldeten Kohlköpfen?

Woher stammt also der Menschheit Würde? Wir mußten sie uns mit Mühen verdienen. Wir haben sie in einer absurden und blutrünstigen Geschichte allmählich geschaffen, gemeinsam sowie im Bemühen jedes einzelnen von uns Menschen, durch die zahllosen Ketten unserer hoffnungserfüllten und wechselhaften Schicksale, und immer wieder vom Lallen des Säuglings zum stammelnden Greis.

Vom einfachsten Fruchtbarkeits-Figürchen haben wir uns hinaufverdient bis zum Moses des Michelangelo; aus den Höhlen bis in die Konzertsäle und Akademien; vom Heulen der Horde zur Matthäuspassion. Schämen wir uns dessen? Schämen sollten wir uns vielmehr dessen, was wir noch immer nicht überwunden haben: Eigensucht, Aggression, Machtstreben, Demagogie, Manipulierbarkeit, Kriege und den Umstand, daß sich unser Hirn als waschbar erweist.

Und wenn der Mensch sich dessen nicht schämt, schämt er sich jener, die den Kannibalismus überwanden, derer, die den Weg vom Gebrüll zur artikulierten Sprache schafften? Oder noch weiter zurück: derer, die sich aufrichteten, den Kopf freibekamen und die Hände?

Wäre er würdiger, hätte ihn ein Gott ausgedacht mit all seinen Fehlern und Mängeln, hätte er ihm all seine Menschenwürde schon hineingepackt mitten in seine menschliche Unzulänglichkeit, damit er ein Päckchen Würde mit sich herumschleppt, nur um es wieder abzugeben, sobald er diese Welt zu verlassen hat?

Tatsächlich scheinen das viele zu glauben. Nicht nur das Gemeinwesen, die ganze Kultur, selbst der Weltenschöpfer sollen für ihre Würde bürgen. Fort ist dann die Verantwortung - aus dem eigenen Haushalt zuerst, aus der Polis und fort aus dieser Welt zuletzt. Schöpfung soll besser sein als Evolution, leistungslos Hingestelltes besser als das, was sich durch Jahrmillionen strebend bemühte; ein Gott der vorfabrizierten Arten besser als einer, welcher der Materie die Chance des Lebendigen gab und der Kreatur die Chance, ihm zuzustreben.

Aber was gibt es doch an vertrackten Bemühungen, jener Konsequenz der Evolution, der Selbstverantwortung des Selbstwertes, zu entkommen!

Da gibt es solche, die die Zeitfolge verwirren. Sie publizieren ihre Sicht des Menschen in die Zeit der Saurier., So sollten dann die Menschen vor den Säugetieren gewesen sein. Da gibt es solche, die ein Fältchen in der embryonalen Nackenbeuge für unvereinbar halten mit allen Embryonen der Wirbeltiere. So wäre der Mensch unabhängig von allem Getier geworden.

Aber es gibt auch solche, die behaupten, ein Gewordener könnte sein Werden nicht selbst erkennen. Alle Evolution wäre wohl nur Einbildung, ein Traum der Wissenschaft. Dabei brauchten diese Theoretiker nur auch die Schaufel in die Hand zu nehmen, um sich von diesem ungeheuren Werden zu überzeugen.

Welches Ethos ist es dann, das sich dem Ethos selbst wieder entzieht? In den USA unserer Tage ist es fast ein Kulturkampf geworden, Schöpfung gegen Evolution zu setzen. Sucht man denn nicht dahinterzusehen? Ist es nicht nur wieder ein Fortschaffen der Pflichten aus dem eigenen Werden, ein Vertuschen unserer Mängel, eine Verdunkelung der Schwierigkeit des Weges, der noch vor uns liegt? Sieht denn niemand, daß wir das „missing link“ in Permanenz selber sind?

Besser muß es sein, verantwortungsvoller und mutiger unseren Selbstwert selbst ins Auge zu fassen, den Wert unseres Selbst zu prüfen. Der Menschen Würde ist wohl auch dem Mimen in die Hand gegeben - in Wahrheit aber liegt er in den Händen von uns allen.

Selbst der große Biologe Baron Uex- küll glaubte seinerzeit nicht an den Darwinismus; denn ein baltischer Baron, so erklärte mir Konrad Lorenz diese Seltsamkeit, stamme eben nicht vom Affen ab. Vielleicht standen baltische Barone auch nie nackt in Reihen vor Musterungskommissionen.

Der Verfasser ist Vorstand des Instituts für Humanbiologie der Universität wien.

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