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Zeit der Weltfremdheit

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Befreiungserwartung und Katastrophenangst, utopische Fortschrittsphilosophie und apokalyptisches Verfallsdenken. Beide gehören zu unserer modernen Welt. Warum beide? Der Autor des folgenden Beitrages meint: Wir leiden an einer spezifisch modernen Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Unser Erfahrungserleben gleicht dem eines Kindes.

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Befreiungserwartung und Katastrophenangst, utopische Fortschrittsphilosophie und apokalyptisches Verfallsdenken. Beide gehören zu unserer modernen Welt. Warum beide? Der Autor des folgenden Beitrages meint: Wir leiden an einer spezifisch modernen Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Unser Erfahrungserleben gleicht dem eines Kindes.

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Etwa gleichzeitig mit dem Triumph von Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien kommt es seit dem 18. Jahrhundert zu dem, was man die „Entdeckung des Kindes“ genannt hat.

Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern etwas anderes als ein Erwachsener, nämlich ein Kind: das ist eine moderne Entdeckung, etwa 300 Jahre alt. Vor kaum 200 Jahren hat die Romantik — beeindruckt durch Rousseaus Lehre vom guten Wilden — diese Entdeckung des Kindes zugespitzt zur Uberzeugung: das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden — als Verlust der Kindlichkeit - ist

Abfall vom Menschsein, nämlich einzellebensgeschichtlich das, was menschheitsgeschichtlich die moderne Fortschrittskultur selber ist: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen, „authentischen“ natürlichen Menschen.

Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen als die maßgeblichen Menschen. Erwachsenwerden ist Sündenfall. Ihm entgehen

— scheint es - nur die, die das Erwachsenwerden verweigern. Das sind — meinen einige — die Künstler; es sind - meinen andere - die Randgruppen und Aussteiger (von der Boheme bis zur alternativen Selbsterfahrungsgruppe); es sind — so wollen es die modernen Jugendbewegungen — vor allem die Kinder, die Jugendlichen selbst.

Aus der modernen Uberaufwertung des Kindseins und Jungseins

— ermuntert durch die Deutung des Fortschritts als Verfall - folgt schließlich, daß - unter Beifall der Erwachsenen — die Jugend den Aufstand probt: als Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden. All das kennzeichnet weithin unsere Lage.

Dabei sollte man — abweichend von bisherigen Analysen - folgende Möglichkeit in Betracht ziehen: Vielleicht stimmt es gar nicht, daß die modernen Erwachsenen zuviel erwachsen und zuwenig Kind sind. Vielleicht stimmt eher das Gegenteil, daß sie zuwenig erwachsen und zuviel Kind sind und - im Sinne eines Ressentiments — durch das Lob des Kindes nur die eigene Schwäche loben: die Neigung der modernen Erwachsenen zu Infantilismen, zu Verkindlichung und Kindlichkeiten, ihre Unfähigkeit zum Erwachsensein, ihren Hang zur Weltfremdheit. Man wird nicht mehr erwachsen. Damit meine ich hier nicht das, was wohl immer zutraf und was uns die Psychoanalyse nur noch einmal eindrucksvoll in Erinnerung rief: wie sehr wir bei allem, was wir tun und denken, jenes Kind zitieren und bleiben, das wir einmal waren: sein Verhältnis zu den Eltern, den Geschwistern, und zwar auch und gerade in jenen häufigen und häufig harmlosen Fällen, wo es nicht zur Neurose führt.

Neu ist nämlich eine zeitalterspezifisch moderne Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Ich nenne sie tachogene Weltfremdheit; denn sie resultiert aus der beschleunigten Schnelligkeit (auf griechisch: to tächos) des modernen Wirklichkeitswandels.

Wir leben seit knapp einem Vierteljahrtausend in einer Welt, in der sich immer schneller immer mehr ändert. Zu ihren besonderen Kennzeichen gehört die Veränderungsbeschleunigung. Wo beispielsweise vor 2000 Jahren ein Wald war und vor 1000 Jahren ein Feld und vor 500 Jahren ein Haus, stand vor 150 Jahren eine Weberei, vor 75 Jahren ein Bahnhof, vor 25 Jahren ein Flugplatz und steht heute ein Weltraumsatelliten-Terminal, und was dort in zehn Jahren stehen wird: das wissen wir noch nicht.

Das gilt auch für unsere Erfahrungen. In unserer Lebenswelt kehren jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir - statt durch stetigen Zuwachs an Erfahrung und Weltkenntnis selbständig, das heißt, erwachsen zu werden — zunehmend stets aufs neue in die Lage derer zurück, für die die Welt überwiegend unbekannt, neu, fremd und undurchschaubar ist: das ist die Lage der Kinder. Erfahrung ist das — wohl einzige -Gegenmittel gegen Weltfremdheit: aber jetzt greift sie nicht mehr. Für uns, die modernen Menschen, wird die Welt fremd, und wir wirken weltfremd. Die modernen Erwachsenen verkindlichen.

Niemals zugleich — das liegt am modernen Siegeszug der Erfahrungswissenschaften — gab es soviel neue Erfahrungen wie heute. Aber nicht mehr wir selbst, sondern andere machen sie für uns. Das bedeutet: je wissenschaftlicher — in unserer Welt - die Erfahrungen gemacht werden, um so mehr müssen wir glauben, und ich betone es, weil es parodox klingt: wir müssen - gerade weil Erfahrungen modern immer wissenschaftlicher gemacht werden — zunehmend mehr nur noch auf Hörensagen hin glauben. Dieses Glaubenmüssen - also die Abhängigkeit von Erfahrungen, die man nicht bzw. noch nicht selber gemacht hat - war stets die Lage des Kindes; heute - in der modernen Welt - ist gerade sie zur Normallage des Erwachsenen geworden, der so in einer neuen Weise zum Kind wird.

Wo alles fließt, zwingt jedes Durchhalten von Handlungen zu Fiktionen. Darum bedarf es einer Dehnoch-Zuversicht. Die einschlägigen Zuversichtsgaranten werden notfalls erfunden: etwa — wie seit Kant — durch Postulate der praktischen Vernunft. Heute sind diese Fiktionen in der Regel keine absoluten Postulate mehr: nicht mehr das Postulat einer übermenschlich wiedereinrenkenden Allmacht (Gott) und nicht mehr das einer trans-endlichen Geduld, ihre 'Erfolge abzuwarten (Unsterblichkeit); sondern: zu-versichtsgarantierende Postulate werden alle Konstanzfiktionen (wie sie sich exemplarisch melden durch die gegenwärtige Inflation der Formel „ich gehe davon aus, daß ...“, einer Konstanzfiktionsformel), etwa als Ceteris-pari-bus-Klauseln.

Diese bilden ihrerseits ein wachsend kompliziertes Ensemble, das zu seiner Betreuung Experten braucht. Darum postuliert man heute nicht mehr Postulate, sondern Postulierer: das Orien-tierungsdatenproduktionsgewer-be mit seiner Superabteilung für die Fiktionskonfektion, zu der nicht nur die hochrechnenden Statistiker — darunter die mit den Weltmodellen — gehören, sondern auch die Träumerprofis.

Die jeweils überwältigende Mehrheit der Handlungsteilnehmer — zu der wir alle gehören — ist dabei nicht mehr in der Lage, den Realitätsgehalt der Daten wirklich zu beurteilen: es vermischt sich der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktion. Darum ist es gegenwärtig so leicht, wirkliche Schrecklichkeiten zu ignorieren und von fiktiven Positivitäten überzeugt zu sein und fast noch leichter, fiktive Schrecklichkeiten zu glauben und für wirklich Positives blind zu werden, also: was in den Kram paßt, zu akzeptieren, und was nicht in den Kram paßt, zu verdrängen.

Darum ist das Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit zunehmende Illusionsbereitschaft. Immer weniger vergangene Erfahrung wird auch zukünftige Erfahrung sein: darum hat die Erwartung des Künftigen immer weniger ihr Maß an der bisher vorhandenen Erfahrung: so wird die Erwartung

— nicht mehr gedeckt und nicht mehr kontrolliert durch Erfahrung — maßlos und also der Tendenz nach illusionär, wobei diese Not leicht zur Tugend erklärt wird.

Dann kommt es zur Flucht aus dem Erfahrungsverlust in den Erfahrungsverzicht, etwa zur großen Konjunktur der Aprioris-men und der Heilspläne; vor allem aber: die Menschen werden zu erfahrungslosen Erwartern, zu Träumern.

Eben weil die Erwartungen insgesamt weltfremd werden, kommt es bei Enttäuschungen von Positivillusionen nicht mehr zur Ernüchterung, sondern zu einer Art negativer Trunkenheit: Die Uberhoffnungen kippen nicht mehr um in Realitätssinn, sondern in Panik. Wir leben nicht im Klima nüchterner Abwägung, sondern im Klima hysterischer Angst; denn wohin man schaut: es herrscht gepflegte Panik. Warum — in aller Welt — ist das so?

Die Menschen sind konservative Wesen, die ungern verzichten, sogar aufs Schlimme. Es kommt auch und vor allem zur großen Suche nach Ersatz für die verlorengegangenen Widrigkeiten.

Je mehr die moderne Welt frühere Schrecklichkeiten tilgt, um so mehr werden ihr selber jetzt Schrecklichkeiten angehängt.

Je sicherer zum Beispiel der Staat Bürgerkriege verhindert, desto hemmungsloser gilt es selber als Bürgerkriegsgrund; je mehr die parlamentarische Demokratie den Menschen Repression erspart, um so leichter proklamiert man sie selber zur Repression; und: je mehr das Recht die Gewalt ablöst, um so mehr gilt schließlich das Recht selber als — gegebenenfalls „strukturelle“—Gewalt. Kurzum: je mehr die Kultur die Wirklichkeit entfeindlicht, desto mehr gilt die Kultur dann selber als Feind. Ebendarum empfehle ich: mehr Mut zum Erwachsensein.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Gießen (BRD). Der Beitrag ist ein Auszug aus „Apologie des Zufälligen . Diese philosophische Studie erscheint demnächst im Verlag Philipp Reclam jun. Stutt-art. Der Vorabdruck erfolgt mit der freundliehen Genehmigung von Autor und Verlag.

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