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Europa muß sich wehren

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Ich habe bereits in meiner Kindheit den Krieg hassen gelernt und ihn zu hassen nie aufgehört. Doch gerade im Hinblick auf jene Jahre wie auf die gegenwärtige Lage und auf die aggressivsten Kundgebungen der heutigen Pazifisten kann ich mich nicht als einer der ihren ansehen.

Ich werde nunmehr nicht über den Frieden, sondern über den Krieg sprechen. Wir stimmen wohl überein: Es gibt keinen guten Krieg, jedoch kann es einen guten, öfter noch einen schlechten Frieden geben, den man heutzutage als „kalten Krieg" bezeichnet. Immanuel Kant, unser aller Lehrer, hat im Jahre 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" das Postulat aufgestellt: „Es soll kein Friedensschluß f ür^inen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt zu einem künftigen Krieg gemacht worden ist." In der Tat ist ein schlechter Friedensschluß der Vater jedes neuen Krieges.

Immanuel Kant formulierte als zweiten Definitiv-Artikel ,Zum ewigen Frieden": „Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein." Dieser Satz enthält das Wesentliche, worauf es heute ankommt: Die Vorbedingungen zu einer Föderierung freier Völker in Europa, die selbst dem Skeptiker und Pessimisten ebenso möglich wie wünschenswert erscheinen muß, sind nunmehr gegeben — jetzt, da ein Krieg um die Vormachtstellung sinnlos geworden ist, jetzt, da ein Krieg in Europa nur noch für alle ein vernichtender Bürgerkrieg sein würde.

Die* Pazifisten sprechen gewöhnlich wenig vom Kriegserlebnis, sondern ständig vom zerstörerischen Wahnwitz, von der fortdauernden Apokalypse und vom Grauen der Atomwaffen. Und wer könnte daran zweifeln, daß die Atomwaffen das Ungeheuerlichste darstellen, was der Mensch bisher erfunden hat, um Menschen zu töten und ihre Wohnstätten zu vernichten? Begreiflich, daß man zahllose Menschen, Männer und Frauen, dazu bringen kann, gegen die Atomwaffen Proteste zu unterschreiben, in Massenversammlungen gegen sie zu demonstrieren, die Mitbürger vor der Gefahr eines Atomkrieges zu warnen und die Erzeugung und Aufstellung von Raketen zu verhindern.

Doch es geht, wie ich eingangs betont habe, nicht nur um die vernichtende Kraft der Waffen - in jedem Krieg geht es um legalisierten, ja anbefohlenen Mord an unschuldigen Menschen, ob man sie nun mit Hieb- und Stichwaffen, mit Hinterladern oder Repetiergewehren tötet, mit Kanonen oder mit Bomben, mit Gasen oder Kernwaffen vernichtet. Es kommt darauf an, unermüdlich zu erforschen: Warum, wozu Krieg? Warum, wieso er auch jenen Zeitgenossen erträglich erscheint, die während vieler Jahre vor ihm als dem furchtbarsten Unglück zu warnen nicht aufgehört haben. Wer anstatt über die Quelle und die Gründe der Kriegsgefahr nachzudenken, seinen leidenschaftlichen Protest nur auf die Waffen, und wären es die mörderischsten, reduziert, vermeidet, bewußt oder unbewußt, die Suche nach dem Feuerherd und erliegt der heute weitverbreiteten Neigung, die Mittel mit den Zielen zu verwechseln.

Ja, ich wiederhole es: Ich bin gegen jeden Krieg, ausnahmslos. Aber ich weiß, ich wußte es auch im Jahrzehnt des Dritten Reiches, daß ein totalitäres Regime sich gefährdet glaubt, solange es nicht seine grenzenlose Macht über die unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn — und eines Tages über den ganzen Planeten — ausbreitet.

Ich spreche hier, im Herzen eines Erdteils, dessen innere Zwiste im Verlaufe von 25 Jahren zwei Weltkriege hervorgerufen haben. Es geht mir vor allem um diesen unseren Erdteil, der mehr als nur im geographischen Sinne unsere Heimat ist. Dieses alte Europa verdient es nicht, unterzugehen. Es hat aufgehört, eine Kolonialmacht zu sein, keinerlei Eroberung kann es mehr locken — endlich könnte dieser kriegswütige Erdteil zu einer vorbildlichen Friedensmacht werden. Bleibt jedoch ein Faktum von unüber-schätzbarer Bedeutung: Es teilt den gewaltigen Kontinent mit einem totalitären Imperium, dessen Herrscher ihre Diktatur so lange für gefährdet halten, solange sie sich nicht bis zu den Ufern des Atlantischen Ozeans, ja, wenn möglich, über die ganze Erde ausbreitet.

Wer glaubt und glauben machen will, daß ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre. Wer für die Kapitulation vor jenem bedrohlichen Imperium eintritt, das seit dem Zweiten Weltkrieg mehrere europäische Staaten in Satelliten verwandelt hat, irrt sich und führt andere in die Irre.

Wie auch immer die Beziehungen zwischen Amerika und Rußland sich gestalten mögen, Europa wird sich nicht dank masochi-stischer Wehrlosigkeit, sondern nur dann aus deren Konflikten heraushalten können, wenn es selbst eine Supermacht geworden sein wird, so abschreckend wie jene Riesenstaaten. Das ist unsäglich traurig, jedoch unvermeidlich, weil diese Welt noch während mehrerer Jahrzehnte der Gefahr und der Lockung des Selbstmordes ausgesetzt bleiben wird. Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.

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