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„Detruisez!”

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Ein vielgenannter Staatsmann Mitteleuropas, ein Mann der Routine und der Beweglichkeit, schrieb als österreichischer Emigrant 1917 eine Broschüre unter dem Titel: „Detruisez l’Autriche-Hongrie!”, in der Absicht, auf die Mächtigen der Welt Eindruck zu machen, denen es dann vom Schicksal vergönnt sein sollte, nach dem Sieg der Alliierten als arbitrt mundi zu figurieren. Der Wunsch ging restlos in Erfüllung, die Donaumonarchie, deren ordnende Macht und ausgleichende Funktion fiel hinweg, staatliche Auflösung, politische Machtkämpfe und wirtschaftliche Drosselungsversuche fanden auf diesem Boden ihren Tummelplatz, der Geist der Zerstörung konnte seinen ersten großen Erfolg buchen.

War aber nicht vielleicht „Zerstören” überhaupt die Signatur der letzten Jahrzehnte? Zerstört, aufgelöst mit allen jenen Folgen, die wir heute seit einem Menschenalter an uns erleben, wurde nicht nur die alte Donaumonarchie, zerstört wurde auch jener Machtfaktor, der die Völker von Thrazien bis Yemen und an dem Persischen Golf zusammenhielt, in seiner Struktur höchlichst veraltet, verbesserungsbedürftig, aber bei all seinen Fehlem noch befähigt, solch blutiges Ringen, wie wir es heute an den heiligen Stätten sehen, hintanzuhalten. Zerstört wurde der Begriff Mitteleuropa, von Zerstörung bedroht sehen sich auch die kolonialen Machtgebilde, die trotz aller menschlichen Unzulänglichkeiten eine befriedende und aufbauende Rolle spielten.

Notwendige Änderungen können sich auf doppeltem Weg durchsetzen: entweder als Weiterbau, als Einbau neuer Faktoren unter Modifizierung und wesentlicher Beibehaltung der alten Grundlagen oder als radikales Zerstören und Niederreißen. Unsere Zeit wählte letzteren Weg, jahrhundertealte Zusammenhänge wurden restlos zerfetzt, den spaltenden, aufsplitternden Kräften wurde bedenkenlos freie Bahn gelassen.

Zerstören hieß auch die Losung in Sachen der Staatsformen. Die Sieger diktierten diese Änderung und die besiegten Völker, die ihre bisherigen Führer für die Niederlage verantwortlich machten, entledigten sich in großer Eile ihrer traditionellen Lebensformen. Es ist sicher zuzugeben, daß die Republik, die echte und volle Demokratie, der gesteigerten Individualität am besten entspricht und daher dem Zeitalter der politisch emanzipierten Persönlichkeit besonders oder vielleicht sogar allein angemessen ist. Man darf aber vielleicht doch an das englische, belgische oder skandinavische Beispiel erinnern und der Meinung sein, daß auch auf diesem Gebiet größere Sprünge selten gut tun und das seelische Gleichgewicht der Völker auf lange hinaus stören. Man darf sogar beim Gedanken verweilen, was geschehen oder was unterblieben wäre, wenn etwa in Deutschland die alte Staatsform in verjüngter Gestalt weiterbestanden hätte und infolgedessen ein Hitler unmöglich gewesen und sein blutiges Abenteuer der Menschheit erspart geblieben wäre. Bismarck fürchtete, ein Kaisertum der Napoleoniden oder ein Königtum der Orleans werde der Träger des Revanchegedankens sein, von der Republik hingegen erhoffte er ein Einlenken in die Bahn des Vergessens und des Friedens. Das Gegenteil geschah: die dritte Republik wurde der Träger des Revanchegedankens. Genau denselben Irrtum begingen die Alliierten des vorletzten Krieges, als sie auf der Änderung der Staatsformen bei den Besiegten bestanden. Gerade dadurch stießen sie die besiegten Völker in politische Experimente, die schließlich in der Gewaltherrschaft eines Abenteurers endeten, der der Menschheit den zweiten Weltkrieg bescherte.

Zerstörung hieß die Parole auch auf geistig-kulturellem Gebiet. Alles, was an religiösem Gedankengut, was an Recht und Sitte noch Gemeinbesitz aller europäischen Völker war, stand im Zeichen eines ständigen Abbaus, die fortschreitende Säkularisation des öffentlichen Lebens führte zur Emanzipation von jeglicher ethischer Schranke, an die sich auch das politische Handeln früherer Zeit zum mindesten gebunden hielt und gebunden scheinen wollte. Die Verleugnung der Sittlichkeit in der Politik, früher oft genug geübt, aber noch als Anomalie empfunden, galt nun als erlaubt, ja als Pflicht. Ein geistiger Nihilismus machte alles fragwürdig, was bisher zur einheitlichen Geisteshaltung gehörte, nichts ist hiefür so bezeichnend als die Tatsache, daß dem deutschen Volk sogar der innere Wert und die Berechtigung der Christianisierung als problematisch hingestellt wurde, daß die Idee des objektiven Rechtes und die Würde der freien Persönlichkeit verneint wurde. Zerstören ist Auflösen all dessen, was Jahrhunderte in zäher Arbeit und oft unbewußter Planmäßigkeit zum Nutzen der Menschheit als Grundlage friedlichen Zusammenlebens, wirtschaftlichen Wohlstandes und geistiger Kultur geschaffen hatten. Heute stehen wir am Endpunkt dieser Entwicklung, an der allseitigen kulturellen, wirtschaftlichen und völkischen Bedrohtheit Europas, eine große Etappe ist zurück gelegt auf jenem Weg, an dessen Ende der Untergang des Abendlandes stehen muß. „Im Jahr 1919”, sagte der große Däne Brandes, „hat sich Europa zum Tod verurteilt.”

Detruisez! — Der dieses Wort geschrieben, hoffte wohl nach der Zerstörung der alten Ordnung in diesem Teil Europas einen Neubau errichten zu können auf gesünderen, der Zeit entsprechenderen Grundlagen, der seinem Volk neue Entwicklungsmöglichkeiten geben, ihm nicht nur die Eigenstaatlichkeit, sondern auch eine beherrschende Rolle in Mitteleuropa sichern sollte. Zweimal seither sah er sein Werk versinken, das einemal ging die staatliche Souveränität und nationale Freiheit verloren, das anderemal scheinen alle jene Lebensgüter bedroht, “‘die dieser Staatsmann und sein Volk in Nachahmung westlicher Lebensart so sehr zu schätzen wußten. Vielleicht denkt er heute in der selbst, aber kaum freigewählten Einsamkeit darüber nach, wie es gekommen wäre, wenn an der Spitze seines Lebensprogramms kein „detruisez”, sondern ein „edifiez” gestanden, wenn an Stelle der Zerstörung ein Aufbau und, sagen wir es ruhig, ein Umbau der Inhalt seines ruhelosen und sicher tatenreichen Lebens gewesen wäre. „Zerstörung ist das Schlimmste, denn sie ist dumm”, läßt Wildenbruch in einem seiner Dramen den Erasmus sagen.

Man rühmt es den großen Philosophen des Mittelalters nach, daß sie nicht den leeren Ehrgeiz hatten, stets von vom anfangen zu wollen, sondern daß sie auf den alten Grundlagen weiterbauten, alles wertvolle ein- fügen, dabei manches frühere wohl ändern, aber nicht Umstürzen wollten. So entstanden jene „Summen”, die ein imponierendes Weltbild von wundervoller Geschlossenheit dar- stellten und vermittelten. Man rühmt es dem Katholizismus nach, daß er sich auf seinem Lebensweg aufgeschlossen verhielt zu allen Werten, die ihm begegneten und sich dieselben einzuverleiben verstand. Vielleicht kann die heutige Menschheit aus solchen Beispielen lernen, vielleicht ist es noch nicht zu spät, es einmal mit der anderen Methode zu versuchen, nicht mit dem Auflösen und Zerstören, sondern mit dem Einigen und Verbinden. Oswald Spengler sieht den Unterschied -zwischen unserer und früheren absterbenden Kulturen darin, daß wir heute imstande sind, unseren Krankheitszustand zu erkennen, die Fieberkurve nachzuziehen und die Erstarrung zu registrieren und, so wie einst Kassandra, wissend, aber ohnmächtig dem Tod entgegenzugehen. Vielleicht ist es doch etwas anders? Vielleicht kann gerade das Wissen um unseren Zustand noch einen Weg zur Rettung zeigen. Aber es darf kein Weg der Zerstörung und Auflösung, es muß ein Weg der Vereinigung, der Besinnung auf die gerreinsamen Grundlagen unseres Lebens und unserer Kultur sein. Ist dies einmal erkannt und werden daraus mutig die Konsequenzen gezogen, dann wird die ökonomische Seite keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten, denn auch hier dürfte das Wort gelten: Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazugegeben werden.

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