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Tito und seine Intellektuellen

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„Ich habe wenig Geld, aber viel Freiheit“, erklärte mir ein jugoslawischer Schriftsteller in seiner winzigen Wohnung, und er meinte damit die Freiheit unter den gegebenen Umständen. Auch in den anderen Gesprächen, die ich mit vielen Autoren, Künstlern und Intellektuellen verschiedenster Art in Belgrad und Zagreb hatte, wurde die umgekehrte und politisch gemeinte Proportion dieser beiden Fakten bestätigt. Die Tatsache, daß ich mich scheue, für die einzelnen belegbaren Beispiele Namen zu nennen, da daraus den damit gemeinten Personen Schaden erwachsen kann, mag das politische Klima, das auch in Jugoslawien herrscht, einleitend charakterisieren. „Die Maler haben ts leicht“, sagte mir ein Autor, „sie sind nicht an die Sprache gebunden und viel weniger an jenes Milieu, in welchem sie aufwachsen und verwurzelt sind. Sie können mit geringem Schaden...“ Es folgte eine Handbewegung. Er meinte den Weg nach Westen. Aber die bildenden Künstler und Musiker befinden sich auch im eigenen Land in einer besseren Situation, denn wer kann ihnen aus ihren Bildern und Tonschöpfungen eine oppositionelle Haltung vorwerfen? Der sozialistische Realismus ist in Jugoslawien ebenso wie in Polen längst zum alten stalinistischen Eisen geworfen, Stilfragen allein stehen mit dem Regime nicht mehr in Konflikt.

Das ist zweifellos ein Gutpunkt, der für Jugoslawien angeführt werden kann. Und trotzdem wird man dort die verhältnismäßig liberale geistige Stimmung vermissen, die der Besucher in Warschau schon nach wenigen Tagen bemerkt. In der polnischen Wochenschrift „Tygodnik Powszechny“ konnte man lesen, daß sie „das Organ von Menschen ist, die sich der marxistischsozialistischen Weltanschauung nicht anschließen“. Solche Zeilen sind in Jugoslawien undenkbar. Man wird niemanden treffen, der je öffentlich aus der Kommunistischen Partei ausgetreten ist, wie es in Polen mehrfach geschah, wird niemandem begegnen, der freimütig erklärt, er sei mit dem Regime nicht einverstanden oder etwa er sei ein katholischer Schriftsteller. Mi-lovan Djilas ist freilich ein eigener Fall, über den später noch zu reden sein wird. Von ihm abgesehen, haben sich, so gewinnt man den Eindruck, die Autoren und Künstler mit dem Regime arrangiert.

Keine „zweite Kraft“

Die Position der neuen Regierung war, verglichen mit Gomulka, in zweifacher Hinsicht im Vorteil: Tito hatte nicht mit dem Machtfaktor der katholischen Kirche zu rechnen und sah sich auch keiner ausgeprägten intellektuellen Tradition gegenüber. In Polen schafft die Existenz und das Wirken einer starken Kirche auch jenen Intellektuellen die Spielfläche, die sich als nichtkatholisch bezeichnen. Jugoslawien besitzt keine solche „zweite Kraft“, und die intellektuell bedeutenden Persönlichkeiten stammen nur in allerseltensten Fällen aus „geistigen“ Familien. Belgrad zählte um 1916 nur 48.000 Einwohner, vor kurzem aber 700.000, und die Eltern fast aller Intellektuellen kamen aus einfachen Kreisen, meist aus den Bergen, und oft wuchsen sie selber noch als Hirtenknaben auf und zogen erst später in die Stadt. Sie identifizieren ihre wichtigsten Erlebnisse viel tiefer mit dem neuen Regime als der durchschnittliche polnische, ungarische, tschechische Intellektuelle. Und zudem war Tito klüger als die Autoritäten in Prag, Budapest, Sofia, Bukarest, wenn auch nicht klüger als Gomulka, denn er gab bessere Bedingungen. In Jugoslawien war man den sozialistischen Realismus früher los (Tito brach schon 1948 mit Stalin) als sogar in Warschau, man hatte bei ihm grundsätzlich weniger mit der Polizei zu tun, und er war auch sonst freizügiger: Autoren und Künstler zählen bei ihm, wie überall in den kommunistischen Staaten, zur privilegierten Klasse, aber Tito bot und bietet den besseren Lebensstandard und jährlich, wenn nicht öfter, mindestens zwei Reisen ins westliche Ausland.

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