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Mächtige Angst

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Der am 5. November in Belgrad eröffnete — und kurzzeitig vertagte — Prozeß gegen sechs junge serbische Intellektuelle ist ein Ergebnis der Angst: Die Dogmatiker in der jugoslawischen Führung bangen, dort derzeit in der Ubermacht, um ihre Macht. Daher wehren sie sich gegen wirkungsvolle Wirtschaftsreformen, daher blasen sie zur Jagd auf die kritische Intelligenz.

Vladimiru Mijanovicu, Miodra-gu Milieu, Dragomiru Loujicu, Gordanu Jovanovicu, Vlusku Im-sirovicu und Milanu Nikolicu werden von „konterrevolutionären Positionen" ausgehende Umsturzabsichten vorgeworfen, weil sie sich in den Jahren 1977 bis 1984 regelmäßig in Diskussionsversammlungen getroffen haben. Sie wurden mehrheitlich am 20. April des heurigen Jahres bei einer Versammlung der „Freien Universität" verhaftet, an der auch Milo-van Djilas, der enge Tito-Mitarbeiter und Parteitheoretiker wurde 1953 aufgrund seiner schonungslosen Kritik am Machtmißbrauch der neuen kommunistischen Herrschaftsträger zum ersten Dissidenten im Osten Europas, und der bosnische Soziologe Vojislav Seselj teilgenommen hatten.

Seselj wurde wegen eines nicht einmal veröffentlichten Manuskriptes im Juli dieses Jahres nach manipulierter Beweisführung durch die Anklage zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Den sechs jungen Intellektuellen drohen jetzt Zuchthausstrafen zwischen fünf und 15 Jahren.

Der Einsatz der Strafjustiz gegen abweichende Meinungen setzt die Belgrader Führung in ein schiefes Licht, die Machthaber sind sich aber auch dessen bewußt: So wurden unmittelbar vor Prozeßbeginn Chefredakteure der hiesigen Presse vergattert, das Verfahren herunterzuspielen und den geharnischten Protesten im In- wie im Ausland gegen diesen politischen Prozeß keinerlei Raum zu geben.

Denn nicht nur über 200 Persönlichkeiten aus dem westlichen Ausland deponierten in Belgrad ihren Protest gegen die Strafverfolgung der freien Meinungsäußerung in Jugoslawien, auch im Inland haben die sechs Angeklagten Fürsprecher.

„Diese jungen Leute denken und sagen nur, daß dieses Land unkorrekt regiert wird", schreibt etwa ein Belgrader Intellektueller an den Vorsitzenden des Staatspräsidiums, Veselin Djuränovic, um dann zu fragen: „Wer braucht heute moralisch und psychologisch ruinierte Menschen — die ausgenommen, die fühlen, daß es leichter ist, einen moralisch unin-f ormierten Mob ... zu regieren als Menschen, die denken und fühlen?"

Das eben eröffnete Verfahren ist sicherlich das größte seiner Art, aber - auch über die Verurteilung von Seselj hinaus — nicht das einzige: Drei kroatische Geistliche, nämlich Josip Frkin, Marian Milivan und Josip Stanko Skunca, werden sich demnächst wegen Besitzes „staatsfeindlicher Schriften" vor einem Gericht in Pula zu verantworten haben, kürzlich erst wurde der Franziskanerpater Joze Krizic aus Med-jugorije zu zweieinhalb Jahren wegen „feindlicher Agitation" verurteilt: „Alle Strukturen werden vergehen", hatte er gepredigt, „nur die Kirche wird alles überstehen."

Wirtschaftliche Probleme ohne Bereitschaft zu notwendigen Reformen, eine Selbstverwaltung in der Krise, ein nervös-ratloser Apparat, jetzt noch der Rückfall in politische Prozesse: Jugoslawien steht in diesem November in einem Tunnel, in dem kein Licht vom fernen Ausgangsportal sichtbar ist.

Zwar sei die Situation noch nicht gefährlich, „aber es gibt keine Perspektive: Das ist die Krise des Systems", meint Milovan Djilas im Gespräch. Allerdings: „Das System verfällt, aber noch ist es stark genug, um zu leben." Mit Hilfe des Westens.

Trotzdem spricht sich Djilas für die westliche Wirtschaftshilfe aus, wenn er sie auch mit wirtschaftlichen Reformmaßnahmen und nicht mit politischen Bedingungen — die Beachtung der Menschenrechte ausgenommen - verknüpft sehen will.

Eine Auffassung, der man in anderen serbischen Intellektuellenkreisen in Belgrad vehement widerspricht.

Die Finanzhilfe sei es, die den Kommunismus an der Macht halte — in Jugoslawien wie auch anderswo: „Ihr im Westen unterstützt ja auch nicht das polnische Volk, sondern die Okkupation", lautet der Vorwurf, der in der Feststellung gipfelt: „Der Westen will den Kommunismus niemals vernichten."

Trotz - oder gerade wegen? -der nunmehrigen Jagd auf die kritische Intelligenz ist der serbische Widerstandsgeist ungebrochen, kämpferisch, national begeistert.

Doch der Schulterschluß zwischen den intellektuellen Zirkeln und dem Mann im Betrieb, im Dorf, ist nicht absehbar. „Die große Masse der Leute lebt in Unklarheit", ist auch Djilas überzeugt, „doch ohne große Bewegung ist eine Veränderung undenkbar."

Sie im Keim ersticken, Andersdenkende einschüchtern: Die Angst der Mächtigen versucht daher mächtige Angst zu verbreiten.

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