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Wien und Belgrad

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Es ist ein weiter Weg von 1791 bis 1960 — für Wien und für Belgrad.

1791 erschien die erste serbische Zeitung, in Wien. Im Jahr darauf kam die zweite serbische Zeitung heraus, ebenfalls in Wien. Mit dem Doppeladler am Kopf der Titelseite. Dieser Doppeladler und sein großer, erfolgreicher Zwillingsbruder (beide stammen sie im letzten von Byzanz, vom Doppeladler des Oströmischen Reiches, ab), der Aar des russischen Zaren, haben Belgrad dann überschattet. Über der sonnenheißen Straße nach Sarajewo, 1914, steht schließlich der russische Doppeladler als Protektor des serbischen Aufstiegs. Das Vereinigte Königreich Jugoslawien, „Südslawien“, erkennt nach 1918 die österreichische Grenze nicht an. Wenig mehr als 20 Jahre später dringt im mörderischen Gegenstoß der entartete Sohn Österreichs in die reichen, schönen Lande ein, verwandelt sie in ein Karstreich des Schreckens. Der ExÖsterreicher entfesselt dazu die Bestien des Bürgerkrieges. Da kämpfen nun Serben gegen Serben, Kroaten gegen Kroaten, Montenegriner, Italiener, Deutsche, Österreicher.

Der Besuch des jugoslawischen Außenministers Ko^a Pofovic vom 14. bis 26. November in

Wien gilt nicht zuletzt der endgültigen Bereinigung der offengebliebenen Rechnungen und dem Aufbau grundlegend neuer Beziehungen zwischen Belgrad und Wien. Österreich und Jugoslawien können in gesunden, politisch, kulturell und wirtschaftlich sehr produktiven Beziehungen, aus denen Freundschaft werden mag, miteinander leben. Das aber ist nur möglich, wenn alle etwas mehr die Augen öffnen als bisher. Belgrad wünscht zunächst konkret die korrekte Erfüllung des Artikels 7 des österreichischen Staatsvertrages über die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, der Steiermark und dem Burgenland. Merkwürdige Österreicher: Wir können Südtirol nicht verteidigen, wenn wir nicht bald, korrekt und würdig, die strittigen Fragen in Kärnten, vor allem den doppelsprachigen Schulunterricht und die territoriale Abgrenzung der slowenischen Minderheit, durch das Minderheitenfeststellungsgesetz, das gegenwärtig im Parlament beraten wird, lösen. Wir sollten stolz darauf sein, daß uns als einziges ethnisches Erbe und ethische Verpflichtung aus dem Zwölfvölkerstaat diese unsere österreichischen Slawen erhalten geblieben sind, als eine mögliche Brücke zur reichen

Kultur des alten und jungen Balkans, auf dem Jugoslawien heute ein einzigartiges Experiment bildet, viel besucht und studiert von konservativen und fortschrittlichen Engländern, Franzosen, Amerikanern, bewundert von Afrikanern und Asiaten, die sich eine neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung aufbauen wollen, ohne ganz in die Fänge Moskaus und Pekings zu geraten. Marschall Tito, dem einstigen Korporal in einem Warasdiner Infanterieregiment, ist es ja gelungen, die Überschattung durch die Nachfolger des russischen Adlers von den schönen Bergen und Buchten seines Landes zurückzudrängen. Titos Jugoslawien ist, neben Israel, wohl das interessanteste Experiment in und aus europäischem Erbe. Eine sehr wache junge Intelligenz hat in Jugoslawien längst mit dem Westen intensive Kontakte aufgenommen; abseits und immer noch abseitiger verharren wir in Österreich am Rande der Weltgeschehnisse, da tausend Tabus, Klischees und Wunschvorstellungen uns im schlechteren Teil unseres Selbst einhausen. Die kulturelle Produktion, die wirtschaftlichen und innenpolitischen Experimente in Titos Staat werden, in Frankreich, England, Amerika lebhaft diskutiert, bei uns „übersehen“. Kein Wunder, daß Wien und Österreich heute für jugoslawische Studenten uninteressant geworden sind. Sie spüren, daß hier gegenwärtig kein zukunftsoffenes Klima herrscht.

Etwas anderes sollten Politiker, so sie Staatsmänner werden wollen, und Industrielle, so sie den Kämpfen der Zukunft um Österreichs wirtschaftliche Selbstbehauptung gerecht werden wollen, endlich wahrnehmen. Jugoslawiens Industrie interessiert sich für österreichische Produktionslizenzen, strebt Forschungsgemeinschaften an, die Mitarbeit technischer Fachkräfte und die Kooperation beim Export in dritte Länder. Der Hafen Fiume hat für Österreich eine eminente Bedeutung. Italienisches Störfeuer gegen den Wienbesuch des Ministers PopoviC zeigt, wie sehr man dort die politische Bedeutung dieser wirtschaftlichen Beziehungen erkannt hat. Wirtschaft und Politik verbinden sich in einem Moment, dessen Bedeutung Österreich soeben bei der Südtiroldebatte in der UNO hoch zu schätzen gelernt hat: die Beziehungen zu den jungen afroasiatischen Staaten. Zusammenarbeit mit Jugoslawien könnte hier Österreich Räume und Menschen öffnen, die bisher wenig vom neuen Österreich wissen, mit Jugoslawien aber seit Jahren in lebhaften Kontakten stehen.

Weit ist der Weg von 1791 über 1914 zu 1960: nicht nur für Wien, sondern auch für Belgrad. Wir haben hier rückhaltlos offen von der österreichischen Chance und Verpflichtung, neu anzufangen, gesprochen. Dasselbe sollte auf jugoslawischer Seite in Belgrad geschehen. Seit den Schüssen in Sarajewo hat Belgrad mit seinem geflissentlichen Übersehen und „Überschießen“ Wiens sich selbst sehr geschadet: nach Paris, dann wieder nach Berlin orientierte sich zeitweise eine fehlgeleitete Belgrader Außenpolitik, die viel von dem Unheil, das dem Lande zukam, fast magnetisch auf sich zog. Di Neugründung der jugoslawisch-österreichischen Beziehungen setzt voraus, daß in Belgrad entschieden jeder slawischen Irredentamanipulation und jeder Spekulation auf parteipolitische Kombattanten in Österreich klar und ein für allemal der Abschied gegeben wird.

Fassen wir zusammen: Neue Beziehungen Wien—Belgrad können Österreich Tore öffnen, die wir wirtschaftlich und politisch brauchen, um neben EFTA und EWG in Europa und außerhalb Europas im immer noch härter werdenden Konkurrenzkampf bestehen zu können. Kulturelle Beziehungen könnten frische Luft und geistigen Kampf — ja auch den — in das laue, geistig träge, larmoyante Klima hier einbringen. Das wäre nicht der geringste Gewinn und ein Zeichen dafür, daß auch hier langsam die Neuzeit beginnt.

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