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Die Saat des Ketzers

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Die politische Ketzerei des Montenegriners Milovan Djilas hat sich nie hinter Gefängnismauern verbannen lassen. Sie war vom ersten Augenblick an stärker, bedeutender als der Mann, der sie vertrat und der vielleicht auch deshalb nun — wieder einmal — freigelassen wurde. „Menschen leben in Träumen und Realitäten“, schloß er ein Kapitel seiner Gespräche mit Stalin, deren Publikation ihm vor fünf Jahren eine achtjährige Strafe eingetragen hatte. Djilas, einmal engster Mitkämpfer Titos und Mitgestalter des jugoslawischen kommunistischen Modells, war mit seinen Träumen der Wirklichkeit vorausgeeilt — aber sie hat ihn nicht erst einmal eingeholt und bestätigt. Nicht etwa, weil er ein genialer Prophet und Denker wäre, sondern weil er den Mut besaß, etwas früher zu Ende zu denken, was andere Kommunisten langsamer und später ahnten; vor allem aber, weil er der einzige machtausübende kommunistische Führer war, der diese Einsichten weder vor sich noch vor anderen verbarg.

In den 13 Jahren seit seinem dramatischen Ausschluß aus der jugoslawischen Partei ist die Zahl jener hohen Funktionäre in allen Parteien Osteuropas, die so denken wie er, aber schweigen, von Jahr zu Jahr gewachsen, besonders in der jüngeren und mittleren Generation. Was

Djilas in seiner Analyse der „neuen Klasse“ eifernd und vergröbernd, aber im Grunde treffend analysierte, ist vielen von ihnen seitdem aufgegangen:

• das Übergewicht der bürokratischen, unkontrollierten Macht,

• das System der Privilegien,

• die Bevormundung des Geistes,

• die so unmarxistische Vorherrschaft der Partei über den Menschen und nicht zuletzt

• die Tendenz zu dem, was er 1957 schon „Nationalkommunismus“ nannte.

Der Mut zum Unopportunen

Für Tito und sein jugoslawisches Experiment war Djilas' Offenheit niemals opportun. Im Jänner 1954 hielt ihm Tito entgegen, das „Absterben der Partei“ sei ein langwieriger Prozeß, und so langwierig wie die Erfahrungen, die Tito mit seinem Halb-System der „Arbeiiterselbst-verwaltung“ machen mußte — bis an den Rand des Staatsbankrotts, bis zu der neuen Phase, in die er heute das jugoslawische System überführt, während ringsum in Osteuropa längst in vielfältigen Formen der „Nationalkommunismus“ marschiert: von den wiedererstehenden Balkanideen des Bulgaren Dimitrotrj bis zur eigensinnigen Selbstisolierung Ulbrichts, von den sowjetischen Wirtschaftsreformen bis zum Zerfall des

COMECON. Die Rumänen, deren Satellitenexistenz Djilas noch in den „Gesprächen mit Stalin“ drastisch schilderte, sind mündig geworden, die Komintern-Ideologie ist tot, und selbst Chruschtschow, den Djilas 1961 so unfreundlich schilderte, daß es Tito peinlich sein mußte, ist verschwunden. Daß „Stalin in den sozialen und geistigen Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft fortlebt“, wie Djilas schrieb, hört sich heute — liest man die Beschuldigungen, die Peking und Moskau austauschen — anders an als damals; als eine weniger oberflächliche Wahrheit, als eine dialektische mindestens. Denn heftiger denn je ist auch in der Sowjetunion die geistige Auseinandersetzung mit diesen „Grundlagen“ in Gang gekommen. Die Saat des Ketzers Djilas ist auch dort aufgegangen, wenn auch in verkapselten Formen.

Ist es wirklich seine Saat?

Aber ist es überhaupt die Saat des Milovan Djilas? Ist es nicht vielmehr der natürliche Gang der Dinge, der das kommunistische System — als Philosophie wie als Machtapparat — wie jedes andere dem historischen Wandel, der Abnutzung wie der Anpassung, unterwirft? Jugoslawien selbst bietet den Beweis. Ohne Djilas wird nun, nach Ranfcovic' Sturz, die Trennung von Partei und Verwaltung vollzogen — nicht perfekt, sondern schleppend, mit Rückschlägen wie eh und je. Manche Beschlüsse lesen sich wie verspätete Entscheidungen des Mannes, der längst seinen Anteil an der Macht verlor und dem nun von Tito die gleiche Gnade erwiesen wurde wie seinem mächtigsten Widerpart: Rankovic braucht trotz aller Enthüllungen nicht ins Gefängnis gehen, Djilas verläßt es trotz ideologischer Unbußfertigkeit. Und er verließ dieses Gefängnis von Sremska Mitro-vica, in das ihn vor dem Kriege schon der König sperrte, am gleichen Tage, an dem Jugoslawien — im Zuge der Wirtschaftsreform — die Wohnungsund Benzinpreise um ein Viertel erhöhte und als erstes kommunistisch regiertes Land die Einreisevisa für Ausländer abschaffte. Der Stachel, der in allem solchen Wandel steckt, bleibt freilich. Djilas hat ihn beschrieben: „Wenn die Kommunisten die Welt realistisch deuten würden, verlören sie vielleicht, aber sie würden als Menschen gewinnen!“

Das Konzept des Kardinals

Zum Kern des Widerspruchs gegen diesen Uniformismus wurde selbstverständlich die katholische Weltanschauung und zum konkreten Symbol dieses Widerstandes die Person Kardinal Wyszynskis, der im Jahre 1956 von Gomulka aus einer dreijährigen Haft entlassen wurde.

Kardinal Wyszynski beschloß, in seiner Tätigkeit auf jenem Volkskatholizismus zu basieren, der traditionsbewußt und von einem tiefen, gefühlvollen Marienkult durchdrungen ist.

Kein Wunder, daß Wyszynski auch inmitten des Volkes, besonders auf dem Lande, äußerst populär ist Eben dies mußte selbstverständlich zu Unruhe und Besorgnis seitens der Partei führen. So aber entstand der Wettstreit „um die Seele des Volkes“, dessen Kampfgelände eben die Millenniumsfeierlichkeiten wurden.

Der berühmte Brief

Alles begann mit dem berühmten Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Kollegen, der in der

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