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Kelsens Urtext

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Hans Kelsen hat nicht weniger als sechs Verfassungsentwürfe zu Papier gebracht. Welcher davon ist der Bundesverfassung Pate gestanden, die am 1. Oktober 1920 angenommen wurde? Und warum fehlt in unserer Verfassung ein Grundrechtskatalog?

Diese Fragen sind nicht nur verfassungshistorisch interessant. Die Entstehungsgeschichte unserer Bundesverfassung spiegelt deutlich die Konflikte wider, mit denen die junge Erste Republik zu kämpfen hatte.

Felix Ermacora. hat jetzt versucht, den Ursprung des Stammgesetzes eindeutig zu bestimmen, was bisher in wissenschaftlich belegbarer Weise noch nicht geschehen ist. Das Ergebnis, zu dem der Verfassungsexperte nach langjährigem Archivstudium in seinem Buch „Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen” kommt: Kelsens erster Entwurf, jener, der die stärksten zen-tralistischen Tendenzen zeigt, wurde zur Grundlage des Kompromisses, den die politischen Parteien, die starke Wiener Zentralbürokratie und die Länder 1920 erzielen konnten.

In einer umfangreichen vergleichenden Ubersicht dokumentiert das Werk auch das Schicksal, welches dieser Urentwurf in weiterer Folge bis hin zum Bundes-Ver-fassungsgesetz 1979 genommen hat.

Spricht etwa Kelsen stets von „souveränen Ländern”, ist von „souverän” im darauf aufbauenden Ministerialentwurf keine Rede mehr.

Und die „Mitwirkung der Bundesregierung im Verfahren der Landesgesetzgebung”, von Kelsen überhaupt nicht vorgesehen, ist ebenso wie die Kompetenzverteilung ein Werk der Wiener Zentralbürokratie.

Die stiefmütterliche Behandlung der föderalistischen Idee war den Verhandlern durchaus bewußt. Allerdings gibt es aktenkundig nur eine einzige kritische Anmerkung, die sich im Archiv des Christlichsozialen Parlamentsklubs findet:

„1) Die Länderkompetenzen sind sehr eingeengt.

2) Der Bundesrat, der die Länderinteressen vertreten sollte, ist ein totgeborenes Kind.

Der Föderalismus... kommt zu wenig zur Geltung.

Die Demokratie ist auch noch mangelhaft; so fehlt das Volksbegehren (Initiative) ganz; bei den Ländern fehlt sogar das Referendum ...”

Blieben föderalistische Hoffnungen teilweise unerfüllt, blieb die Verfassung in einem anderen Bereich überhaupt ein Torso: ein Grundrechtskatalog fehlt.

Um zu einem Verfassungskompromiß zu kommen, verleugneten die politischen Parteien „geradezu ihre menschenrechtlichen Vorstellungen, da sie sich mit einem Text begnügten, der keine einzige Aussage über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte enthält” (Ermacora) - obwohl sogar 15 Entwürfe in Diskussion standen.

Wie sehr die Vorstellungen auseinandergingen, belegt ein bisher noch nicht zutage gefördertes Dokument des Verwaltungsarchivs, in dem ein unbekannter Verfasser die „Unterschiede zwischen den christlich-sozialen und sozialdemokratischen Verfassungsvorschlägen” gegenüberstellt.

Während etwa die Christlichsozialen für die „grundsätzliche Gewährleistung des Eigentums” eintraten, forderten die Sozialdemokraten, „das Eigentum soll als von der staatlichen Rechtsordnung verliehen gelten und daher durch sie entzogen werden können”.

Das anspruchsvolle Buch erfüllt damit nicht nur seine primär wissenschaftlichen Zielsetzungen, es erhellt dem zeitgeschichtlich Interessierten auch die ideologisch-gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen in der Ersten Republik.

DIE ÖSTERREICHISCHE BUNDESVERFASSUNG UND HANS KELSEN. Analysen und Materialien. Hrsg. von Felix Ermacora. Osterreichische Schriftenreihe für Rechtsund Politikwissenschaft (Band 4). Universitäts-Verlagsbuchhandlung Braumüller, Wien 1982. 506 Seiten, kart.. öS 750,-.

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