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Russisches Weihnachtsdrama

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Eine echte Weihnachtspremiere, eine großartige Aufführung bringt das Burgtheater, gleichzeitig zum 125. Geburtstag von Leo Tolstoj, mit seinem Bekenntniswerk „Und das Licht scheinet in der Finsterni s". Dieses Stück ist in mehrfachem Sinne ein Fragment: der fünfte -A.kt wurde nie geschrieben, „aber gelebt“, wie ein kurzer treffender Vorspruch im Programmheft des Burgtheaters festhält. Es mußte Fragment bleiben, weil Tolstoj selbst die „Lösung" erst gelang in der letzten Flucht von Gut, Besitz, Familie, in den Tod hinein. Es mußte Fragment bleiben, weil die inneren Widersprüche seiner Lehre und seines Lebens sich nicht vereinen lassen, und es mußte, in einem letzten positiven Sinne, Fragment bleiben, weil alle Schriftwerke existentiell-christlicher Natur Fragment sind, Brief, Essay, Selbstbekenntnis, das abbricht, wie Pascals „Gedanken", wie Augustins Konfessionen, wie des Peguy oder Bernanos’ Wort. Das letzte Wort des Christen auf Erden ist ein Ruf in das Dunkle hinein, ein „Herr hilf, ich gehe zugrunde, wenn Du mich nicht hinüber- und hinaufziehst aus meinen Widersprüchen". Mit Recht schließt die Aufführung des Dramas mit einem Gebet, in dem Verzweiflung und Hoffnung, Untrost und Tröstung eine spirituelle Ehe eingehen …

In der Maske des Nikolaj Iwanowitsch Sarynzew (von Attila Hörbiger mit Recht in der Maske Tolstojs gespielt) stellt Tolstoj hier sein eigenes Leben dar. Seine vergeblichen Versuche, ein integrales Christentum in Erfüllung der Bergpredigt zu leben. Sarynzew-Tolstoj will seine Güter den hungernden Bauern übergeben, und überträgt sie tatsächlich seiner Frau, weil deren Bitten um die Versorgung der Kinder sein weiches und rebellisches Herz rührt (nicht bezwingt). Sarynzew' muß zusehen, wie alle seine Anhänger von ihm abfai- len, mit Ausnahme des jungen Fürsten Boris Tsche- remschanow', der im Miljtärirrenhaus und in der Strafkompanie endet, weil er das Evangelium der Gewaltlosigkeit durch Verweigerung des Militärdienstes zu leben versucht. Alle Fluchtversuche Sarynzew'-Tolstojs aus seiner Familie, aus dem Leben des begüterten Grundadels, hinein in die Welt der Unterdrückten und Beleidigten, des hungernden Niedervolkes scheitern (bis auf den letzten, der nur auf der Bühne der Wirklichkeit spielt). Als ein armer „Narr", ein Gestrandeter, sinkt dieser seltsame Gottsucher in sich selbst zusammen, in seine Schwächen, während die adelige Jugend Altrußlands um ihn den Tanz ihres Lebens weitertanzt (nicht achtend des Abgrunds, um den šie nicht selten sehr gut weiß…). — Unter der Regie Leopold Lindtbergs und der Assistenz von Elena Polew’itzkaja vereinigt diese vollendete Aufführung Paula Wessely (als liebende und n icht verstehende Gattin) und Attila Hörbiger (meisterhaft das Zusammenspiel, die leisen Laute echter Menschlichkeit) mit dem Ensemble der Burg, aus dem Helene Thimig, Hilde Mikulicz, Helmut Ja- nä'tsch und Heinrich Schweiger hervorragen. — Das Stück verdient, ja fordert zu einer möglichst breiten Diskussion heraus. Notizhaft seien deshalb seine weltanschaulichen Grundlagen angedeutet. In Tolstoj bricht der alte sektiererische Untergrund Rußlands, seit Jahrhunderten befruchtet durch deutsche und englische Schwärmer (das Wort im Sinne der historischen Schwärmerbewegung verstanden) mit Macht auf: hier mischen sich extrem rationalistische Elemente mit einem harten Spiritualismus (der alles ..Fleischliche" verwirft) zu jener Explosivmischung, die bald darauf zündet. Die sündige Erde soll gereinigt, gesäubert werden von allen unzüchtigen Herrschaften der weltlichen und geistlichen „Väter". Zar und Kirche müssen untergehen, soll Christus auferstehen im Volke, soll ein neuer Himmel und eine neue Erde in urkommunistischen Brüdergemeinden verwirklicht werden. Mit diesen chiliastischen Ideen, die seit dem 16. Jahrhundert breit aus dem Westen in Rußland einströmen, und die seit dem 18, Jahrhundert durch französische und deutsche Aufklärer und Romantiker (oft in einer Person vereint) neu verstärkt werden, verbindet sich, und das ist hochwichtig, bei Tolstoj ein echt christliches Element, das in die Zukunft des 20. Jahrhunderts und der Einen Erde und Menschheit weist. Nicht zufällig hat dieses Element (der Bergpredigt, der Gewaltlosigkeit, des absoluten Vertrauens auf Gottes Führung) schon zu Lebzeiten Tolstojs in Asien (Indien, China, Japan), Afrika und Amerika stark gewirkt. Kein Zweifel: dieses Element wird von den männischen Denkern der Westchristenheit noch viel ernster genommen werden müssen als es bisher der Fall war. Nicht ohne Grund betonte ein Kenner Asiens vor kurzem: das Christentum wird sich, soll es heute in Asien Eingang finden, auf Taubenfüßen nähern müssen, seine alteuropäischen Ideologien des Krieges, der Gew'alt, des männischen Rechthabens stoßen in den anderen Kontinenten auf erbitterte Abwehr. — Dieses urchristliche und, wenn man will, neuchristliche, wahrhaft zukunftweisende Element ist nun in Tolstoj merkwürdig verklammert mit zahlreichen außerchristlichen Elementen, nicht selten eines anarchischen Nihilismus und eines sektiererischen gnadenlosen Dualismus manichäischer Artung. — Vorläufig ist nur eine Frage noch zu beantworten, die mehrfach gestellt wmrde bei der Premiere: warum dieses Stück eines russischen Spätsommers bei uns zur Weihnacht aufgeführt wird. Antwort: weil es eindringlich (nochmals: ein Verdienst auch der Aufführung und des Ehepaares Wessely-Hörbiger) die Schwierigkeiten aufzeigt, die entstehen, wenn ein Mensch sich anschickt. Gott wirklich auszutragen, auszugebären in seinem Leben. Verpflichtet dem Wort des schlesischen Mystikers: „Und wäre Christus tausendmal geboren, und nicht in dir, du wärest doch verloren."

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