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Kleist — auf Standortsuche

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HEINRICH VON KLEIST. Sämtliche Werke. Herausgegeben von Helmut Sembdner. Carl-Hanser-Verlag, München, 1961. 204? Seiten Dünndruck. Leinen. Preis 56 DM.

Wer weiß heute noch, daß Kleists Dramen „Familie Schroffenstein“ in Graz, sein „Käthchen von Heilbronn“ im Theater an der Wien, „Der Prinz vom Homburg“ im Burgtheater, jeweils bald nach ihrer Entstehung, uraufgeführt wurden? Mit dem Mut zum Wagnis, der heute an den großen Bühnen rar geworden ist, und im Zeichen jenes Mißerfolgs, der als Unstern über dieses großen Genialen Leben stand und stehen mußte.

Sobald wir sein Werk und die Stationen einer geistigen Entwicklung betrachten, nehmen wir wahr, daß er seiner Zeit als Außenseiter gegenüberstand. Preußischer Junker von Erziehung und Geblüt, Angehöriger also einer protestantischen feudalen Kaste, blieb es ihm versagt, deren Ordnungskräfte akzeptieren und sich von ihnen tragen lassen zu können. Er wurde, ihre Brüchigkeit mehr als ein Jahrhundert vor ihrer machtmäßigen Abdankung erahnend, früh gesellschaftlich heimatlos zu einem Dasein, das er „das allcrqualvollste, das je ein Mensch geführt hat“, nennen wird.

Sein Michael Kohlhaas, Bürger noch und doch bereits, einem übermenschlichen Gerechtigkeitsfanatismus zuliebe, privater Sozialrevolutionär, führt eine selbstgenügsam gewordene, erstarrte Gesellschaftsstruktur ad absurdum, die nicht mehr imstande ist, einen Sonderfall human zu bewältigen. Wo Schiller politisch entbrannte, wo Goethe der Epoche konzi-dierte, was ihr zu verweigern praktisch unweise und verfrüht war, erlitt Kleist tiefste metaphysische Verwundungen. Welt und Sein traten ihm absurd entgegen.

Er hat die modernen Begriffe des Unbehagens, der Unbehaustheit, der Absurdität mit den Ausdrucksmitteln und dem Vokabular seiner Zeit, mit allem Pathos seines Wesens, mit expressionistisch anmutenden Evokationen vorweggenommen. Seinen Helden Züge des eigenen Wesens oft überdeutlich aufprägend, hat er Menschen von heute, Menschen einer geistigen Umbruchszeit, moderne Menschen geschaffen: desintegrierte Problematiker, leidenschaftlich Aufbegehrende, im Leiden Todeshungrige. Heute befände er sich damit in weltweiter Gemeinschaft, vor hundertfünfzig Jahren stand er mit seinen bohrenden existentiellen Fragen in seinem Kreis allein. Diese Diskrepanz ; zwischen seinem Weltgefühl und dem herrschenden Geist seiner Epoche war es, die schöpferische Spannungen in ihm wachrief, Fragen auf Leben und Tod, die für ihn ohne letzte Antwort bleiben mußten und unter deren pausenlosem Ansturm er nur durch seine Kunst zeitweilig innere Balance errang.

Die Versöhnung der Gegensätze in seiner Brust nicht erreichend, geht er, Lösung und Erlösung im Absoluten, im Jenseits erwartend, ja erzwingen wollend, aus tiefer Depression in seine letzte Euphorie sich erhebend, in den Tod. Damit spaltet er in äußerster Konsequenz, selbst ein Gespaltener, sein Dasein im Diesseits vom Jenseits, seine irdische Realität von Gott ab. ohne christlichen Verstand, in einem Fluchtakt von grandioser, beklemmender Düsterkeit.

Ihm war nicht vergönnt gewesen, die ihn zerreißenden Spannungen, wie Blaise Pascal durch die „raisons du coeur“, die „Vernunftgründe des Herzens“, zu subli-mieren. Paradoxes Denken — das ist preußisches Erbe — war ihm fremd, die Versöhnung des Unversöhnbaren unmöglich. Ein grauer Novembertag, der 2t. des Monats, war es, als Kleist es unternahm, als Toter die Pforte ewigen Geheimnisses zu durchschreiten. An einem ebensolchen Tage, am 23. November 1654, eineinhalb Jahrhunderte zuvor, gleichfalls inmitten geistiger Krisen seines Säkulums stehend, er-lebte Pascal seine berühmte Vision: er stand, christlich leibhaftig, plötzlich vor dem Absoluten. Dieses Erlebnis entzog ihn, wie G. R. Hocke (in „Manierismus in der Literatur“, Rowohlt-Enzyklopädie, Band 82/83, Seite 258 ff.) geistvoll belegt, allen historisch bedingten Situationen des Glaubens: „Der Mensch, ein Mensch, stand jäh wieder in einem Raum des Übergeschichtlichen. Damit geschah eine Herausforderung an die Menschheit, um deren Antwort sich vielleicht heute die besten Geister Europas bemühen. Es handelt sich um die Integration der beiden Urgebärden der Menschheit.“ Unter diesen Urgebärden versteht Hocke die revolutionär-problematische, jeweils „moderne“, und die klassisch-statische, in sich beruhende Denk-und Weltbewältigungsgebärde. Beide Gebärden, „misere“ und „grandeur“ des Menschen, können und müssen, sagt Pascal, in einem größeren Dritten, nicht in der Re-Version oder Per-Version, sondern in der Kon-Version, wie sie ihm selbst unter trübem Novemberhimmel zuteil wurde, im Absoluten, münden.

Kleist (ebenso wie der intellektuellen Avantgarde unserer Tage) ist diese Einsicht versagt. In seinem Leben steht, was menschlichem Verstand paradox erscheint, feindselig gegeneinander (denken wir an Camus, doch lassen wir ihn nicht zum Schlagwort werden.'), wird nicht als lebenserweckende Polarität, sondern als Unheil, als absurd und unheilbar Getrenntes heillos wirksam. So entstehen seine ekstatischen Dramengestalten in den Schnittpunkten, wo irdisch Unvereinbares in Konvulsionen kämpfen muß, wo die nicht aufgehende Lebensgleichung in Raserei mündet. Penthesilea, Kohlhaas, das Käthchen, der Prinz von Homburg sind Modellfälle für das Nichtbewältigen der Realität durch moderne Menschen im „kriminellen Labyrinth des moralisch Unentwirrbaren“ (Hocke), Modellfälle somit für das Hineingezwungenwerden in Ausnahmezustand und Wahn.

Daß Kleist sich aus seiner geistigen und physischen Not in den Ausnahmezustand des gärenden Nationalismus warf, der Napoleon entgegenbrandete, ist nun (wie anders verhielt sich Goethe!) besser verständlich. Hier gibt es Berührungen der Psychologie des Einzelmenschen mit der Völkerpsychologie, die überraschende Parallelen zeitigt. Auch Völker leiden in bestimmten Situationen geistige, psychische und physische Not, durch die sie vorübergehend extreme asoziale und pathologische Züge annehmen können. Kleist, vom Leben gestoßen und enttäuscht, ohne religiösen und philosophischen Halt, hoffte, aus dem Nationalismus seiner Tage, der (nicht nur ihm) zum Wahn wurde, neue Lebenskräfte saugen zu können, und schrieb seine Kriegslieder und die schaurige Hermannsschlacht: hier gibt es sadistische Orgien, hier werden das deutsche Blut und die Nation vergötzt, werden Rassenhaß und Greuelpropaganda erfunden, in einer Art, die in einer vergleichbaren Situation des Volkes unter dem Nationalsozialismus, die Pforten der Hölle öffnend, aufflammte. Damit ergibt sich ein weites Arbeitsfeld für Verhaltensforscher des Völkerlebens.

Die Vergleichbarkeit von Kleists Denkweise und Denkschicksal mit dem Material unserer Zeit endet mit den Charakteren der in der Gegenwart aktuellen Helden (oder Antihelden) des zeitgenössischen Dramas (oder Antidramas) und Romans (oder Antiromans), denn diese sind zumeist trockene, abgebrühte Großstadttypen, zu humanem Leiden unfähig, eingebettet in ironische, sardonische Farcen und Grotesken, Masken ihrer selbst, stumpf oder superintellektuell ihren Status quo ante relativierend — letztlich zur Resignation angesichts scheinbar auswegloser Weltabsurdität. Wohin der Weg aus dieser untergründig mit emotionaler Spannung explosiv geladenen Situation unmittelbar führt, ist kaum abzuschätzen. Hinter jeder Nichtintegration und Pseudolösung (Relativierung an sich ist die Pseudolösung par excellence) steht die Gefahr des Sui-cids, lähmend und Kräfte erweckend zugleich. Dies tiefer und besser zu verstehen, lehrt uns Kleists Gesamtwerk wie kaum ein anderes.

Das wichtigste Merkmal der vorliegenden Neuausgabe, die mit Grundlagen zu unseren Betrachtungen lieferte, ist die größte bisher erreichte und kaum zu übertreffende Vollständigkeit, die neben allen wesentlichen Textvarianten auch zahlreiche unbekannt gewesene Briefe umfaßt. Fesselnd sind auch die Notizen aus der Zeit von Kleists redaktioneller Tätigkeit. Dankbar begrüßen wir die Werktreue der vorbildlichen Edition, die sich bis auf die eigentümliche Setzung der Satzzeichen durch den Dichter erstreckt. Erfreulich ist die Ausführlichkeit der Zeittafeln, die neben den Hauptereignissen auch viele kleine, doch für die Erkenntnis von Kleists innerem Weg überaus kostbare Details enthält, sowie die inhaltsreichen Anmerkungen zu den einzelnen Werken. Sie ergeben gemeinsam mit der Zeittafel und den Deutungsversuchen des Herausgebers eine ausgezeichnete komprimierte Biographie des Dichters. Ein großes Personenregister ergänzt die beiden schönen Bände, denen lediglich noch eine umfassende Bibliographie der Literatur über Kleist hinzuzu-wünschen wäre.

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