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Über ein kleines Stück große Prosa

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Das Wort „groß“, das leichthin in die Überschrift gesetzt wurde, läßt im weiteren zögern. Die Verwöhnung mit steigernden Wörtern hat übersättigt, Vorsicht scheint angebracht zu sein. So haben die letzten Generationen mehr geschichtliche, große Stunden zur Kenntnis nehmen sollen, als die Geschichte Sekunden der Entscheidung zählen kann.

Große Augenblicke, große Männer, große Literatur: die Maßstäbe sind unverläßlich geworden. Das Wort „groß“ scheint nicht mehr wert zu sein als Makulatur. Man hört nicht mehr hin, wenn es gesagt wird. Das Angebot an Größe gleicht den Auslagen in Warenhäusern, Massenartikel sind leicht verkäuflich. Die Nachfrage bestimmt den Wert von Kostbarkeiten, die Höhe der Buchauflagen den der Dichtung. Der Opportunismus ist nicht nur eine Sache der politischen Bequemlichkeit.

In solcher Landschaft der Indolenz und des stimulierten Aufwands treffen wir gelegentlich auf Landmarken, seltene Zeichen. Sie erscheinen uns zunächst fremd, sie stören die schnelle Bewegung der Zeit. Schon fast im Weitereilen aber fühlen wir uns gebannt; wir ahnen unversehens: die Bedeutung der Chiffren geht uns an. Wir lesen die Inschriften und entdecken Hinweise auf eine vergessene Topographie.

Näher hinschauend, bemerken wir eine Identität der Gegenstände. Freilich führen die Wege oft vorbei; sie sind auf dem Reißbrett entworfen ohne Anschauung der Natur, der Schichtungen und Verwerfungen. So werden auch die Höhlen der alten Erdgeister umgangen und vergessen; die schmucklosen Kapellen des frühen Gottes, der Gnade spendete, ersticken unter dem Wucher des Unkrauts. Doch weder die Dämonen noch der versöhnende Gott können sterben — wir sehen es später —, einmal treten sie hervor; dann erkennen wir die Erde wieder.

Gedanken dieser Art stellen sich ein, wenn man überraschend auf Zeugnisse stößt, die Ereignisse sind oder doch beschreiben; so auch in der Landschaft der Dichtung. Eine durch viele Jahre hindurch bewahrte Erinnerung erhält dann eine Aktualität, die bezwingt. Das Blättern etwa in Kleists Werken fördert unte den zahlreichen kleinen Beiträgen ein Stück Prosa zutage, das mit Fug zu den großen Würfen gerechnet werden kann. Es umfaßt zwei Sätze und hat das innere Gewicht eines Buches. Vermutlich wäre Kleist, in unsere Gegenwart versetzt, ebensowenig ein erfolgreicher Schriftsteller, wie er es zu seiner Zeit gewesen ist. Fraglich auch, ob er einen Redakteur finden würde, der diese fünf Zeilen druckte, es sei denn, sie könnten die Seite eben füllen. Aber Kleist war sein eigener Redakteur und schrieb das Stück wohl auch als Füllsel. Doch trifft dieser redaktionstechnische Ausdruck nicht den bedeuten-

den Inhalt, die außerordentliche Form. Man rechnet nach und findet, daß eine hauptstädtische Zeitung heute dafür ein Honorar von zwei Mark zahlen würde.

Die Bach-Anekdote erschien am 24. Oktober 1810 im 21. der „Berliner Abendblätter“, in jener verzweifelten, oft von Hoffnungen durchblitzten Spanne Zeit, retardierendes Moment in der Tragödie Kleist. Der kurze Text mutet an, als sei er aus einer andere Welt auf uns gekommen. Dichtung über dem Chaos. Hält man die Probe auf das Exempel des Verständnisses, so erfährt man Erstaunliches. Wie die literarische Form der Andektode häufig als Witz aufgefaßt wird, kann es auch hier geschehen, daß Zuhörer über diesen Johann Sebastian Bach lachen, als handle es sich um einen Dorfnarren. Auch die belanglose Meinung „nett“ deutet darauf hin, daß der schwere Stein der Saga in einen ausgetrockneten Brunnen fiel. Ratlosigkeit läßt oft verlegenes Schweigen zurück. Symptom für den Verlust der Fähigkeit, Katastrophen in ihren letzten Wirkungen zu begreifen.

Kein Buch, biographisch und umfänglich, reicht aus, jenes Thema abzuhandeln, das den Sätzen Saint-Exu-perys entsprechen könnte: „Größe entsteht zunächst — und immer — aus einem Ziel, daß außerhalb des eigenen Ichs gelegen ist. Sobald man den Menschen in sich selber einschließt, wird er arm. Sobald er nur für sich da ist.“ Oder jenem „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus der Matthäuspassion. Diese Prosa Kleists ist die dichterische Analogie zu der Karfreitagsfrage: Eli, eli, asabthani?

Denn so hatte Kleist geschrieben: „Bach, als seine Frau starb, sollte zum Begräbnis Anstalten machen. Der arme Mann war aber gewohnt, alles durch seine Frau besorgen zu lassen; dergestalt, daß, da ein alter Bedienter kam und ihm für Trauerflor, den er einkaufen wollte, Geld abforderte, er unter stillen Tränen, den Kopf auf einen Tisch gestützt, antwortete: .Sagt's meiner Frau.'“

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