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Der Irrtum

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Der Fürst hatte es längst erwartet und seine Vorbereitungen getroffen. Als es an jenem Abend von Osten her aufzog wie eine schwarze Wand, war er kaum überrascht. Jetzt geht es also los, dachte er und nickte, denn daß es kein gewöhnliches Gewitter war, was sich da zusammenballte, stand für ihn außer Zweifel. Er befand sich in einem achteckigen chinesischen Kabinett, das sein Großvater nach dem Geschmack seiner Zeit eingerichtet hatte, mit vielen Spiegeln und vielen kleinen blauen Männchen, die durch die Stuckranken von Pagode zu Pagode turnten. ,

Hier auf dem Kaminsims, vor dem größten Spiegel, der grünlich und blasig wie Wasser bis zur Decke stieg, stand eine von den Uhren, die man jede Woche aufziehen muß. Das hat jetzt auch keinen Sinn mehr, dachte der Fürst. Er legte den Schlüssel zurück zwischen die krummen Gold-beinchen der Uhr und ging zu einer der sechs schmalen Fenstertüren, zu der Osttür.

Die Scheiben klirrten unter dem Anprall des Windes, und dem Fürsten riß es fast den Flügel aus der Hand, als er die Tür aufriegelte. Draußen auf dem Balkon pfiff es durch die Lücken des steinernen Geländers. Der Fürst witterte. Wer eine so feine Nase hatte, konnte Brand und Schwefel herausriechen.

Der Turm mit dem chinesischen Kabinett war der eine von den vier klotzigen Ecktürmen des Schlosses, Schwerpunkte der ehemaligen Wehranlage. Die dicken Mauern im Rücken strahlten Sicherheit aus, ein Zauberkreis aus strengen, klaren Formen. Das wirkte auch noch ein Stück in den Park hinein.

Die schwärzlichen Buchsbaumkugeln lagen unbeweglich auf dem geschorenen Rasen, die eleganten Sandsteingötter beharrten auf ihren eingeprägten Gesten. Aber der Teich zu ihren Füßen schauderte. Und dahinter die Büsche und Bäume wogten und wanden sich, als ob sie vor dem, was immer näher kam, davonlaufen wollten.

Wer weiß, was so ein Baum empfindet? Vielleicht hatten sie wirklich Angst Auch der Fürst spürte eine merkwürdige Leere um den Magen, während er bedachte, daß sie nun tatsächlich die Getreuen waren, auf deren Standhaftigkeit er vertrauen mußte. Sie waren die Armee, die ihn und das Schloß schützte. Aber der Fürst war ein Mann von Mut und Verantwortung, und so fühlte er plötzlich das Bedürfnis, auch selbst in die Reihen seiner grünen Garde zu treten, hinüberzueilen und zu sehen, wie es in der vordersten Front stand.

Er trat in das Cabinett zurück und stemmte sich von innen gegen die Tür, bis der Riegel einrastete. Dann strich er sich das gestickte Kamisol glatt, wischte ein Sandkorn oder eine Träne aus den Augen und querte mit festem Schritt die Sternenmuster der Parkette, das Marmorschachbrett des Festsaals, die Kehlheimer Platten der Inneren Galerie, stieg die breite Treppe hinunter, die sich vor der Fensterwand teilte. Während er da hinunterstieg, lag jenseits der Fensterwand der vordere Hof mit dem Springbrunnen unter ihm.

Die schäumende Wassersäule wurde hin und her gerissen, auf halber Höhe zerfetzt, es stäubte sich an die Scheiben. Aber jedesmal, wenn der Sturm Atem holte oder auch nur die Richtung wechselte, stieß der moosige Triton triumphierend und obstinat aus seinem Muschelhorn dieses helle, hohe Signal, und der Fürst hatte ein Gefühl, als verstünde er zum ersten Mal, was es bedeuten wollte.

Gegenläufig führten nun die zwei Treppen in das Vestibül mit den muskelknotigen Atlanten, die das Gewölbe trugen. Da stand fast der gesamte kleine Hofstaat versammelt, den sich der Fürst noch immer leistete und starrte ihm angstvoll entgegen. Nur der Kaplan fehlte, der Fürst vermutete ihn mit Recht in der Kapelle, wo er hingehörte. Dafür hatte der Koch doch in der Tat seine Küche in Stich gelassen und rang seine teigtriefenden Hände.

„Was soll das?“ herrschte ihn der Fürst an. „Auch ein Weltuntergang ist kein Grund, mir das Abendbrot zu streichen! Und überhaupt hat, soviel ich weiß, jeder von euch seine Aufgabe. Wer da meint, sie nicht mehr erfüllen zu brauchen, trollt sich besser jetzt sofort, bevor es ernst wird!“

„Durchlaucht...“ versicherte der Haushofmeister, der in dem seigneu-ralen Gemeinwesen ungefähr die Stellung einnahm, die in kleineren Häusern der Butler hält Er war somit befugt, für alle zu sprechen.

„Schon gut“, quittierte der Fürst. „Wo ist mein Greatcoat?“

„Durchlaucht beabsichtigen - ?“ mußte sich der Haushofmeister vergewissern.

Der Sturm fuhr in die Weiten des Greatcoat und blähte sie, der niedere Reitzylinder scherbelte über den Kiesplatz, die Grasborte des Lupi-nienbeets ließ ihn springen, so verschwand er im Irgendwo. Der Fürst würdigte ihn keines einzigen Nachblicks, lehnte sich schräg gegen den unsichtbaren Widerstand, gestattete, daß er abgedrängt wurde, seitwärts hinter die äußerste Rechte der vier Baumreihen, mit denen die Hauptallee eine kürzeste Gerade zwischen dem Portal des Schlosses und dem Schmiedeeisentor mit den vergoldeten Spitzen zog. Dort benützte er den Durchlaß neben dem Pförtnerhäuschen, trat hinaus auf die Wiese -.

Jenseits der Wiese begann erst der Urwald, den viele Generationen von Fürsten rund um das Schloß und seinen Park gezogen hatten, ein meilenbreites Gefilz von Bäumen, Unterholz und dornigem Gestrüpp, undurchdringlich für jeden, der nicht bereits mit dem Wissen um das Labyrinth der Schleichwege geboren war, denn nur ein einziger mündete in diese Wiese, die wie ein Landesteg in das grüne Meer reichte. Und da sah er in der Mitte der Wiese ein blauweißrot gestreiftes Zirkuszelt Der Sturm besprang es mit Macht, daß die bunten Fähnchen knatterten und klatschten, aber die Seile, die das Zelt hielten, waren fest in der Wiese verankert An der Realität der Erscheinung war nicht zu rütteln, auch nicht an den niedlichen Wagen am Saum des Urwalds und den Pferden, die in ihrer Nähe grasten. Und dort stand sogar ein Elefant, trug einen grellen Troddellatz tief in die Stirn und schwenkte den Rüssel.

Als der Fürst sich bis an das Kassenhäuschen vor dem Zelteingang herangekämpft hatte, fiel ihm ein, daß er wie üblich keinen Groschen Geld bei sich führte.

„Die Vorstellung hat soeben angefangen“, teilte ihm die dicke Dame in der Kasse mit. „Erwachsene zehn Kreuzer, Kinder und Militär die Hälfte.“

Der Fürst erinnerte sich daran, daß er als Fürst der Inhaber irgendeines Regiments war.

„Wenn Sie ein Trommelbub wären, hätten Sie Anspruch auf eine Freikarte“, erwiderte die Dame.

„Dafür gehe ich gleich nach der Pause“, schlug der Fürst vor.

Er war, wie sich zeigte, ohnehin der einzige Zuschauer, wenn er nicht die Artisten mitzählte, die auf ihren Auftritt warteten und in ihren Kostümen am Rand der Manege saßen. Niemand beachtete ihn, als er neben ihnen Platz nahm.

Es war zum ersten Mal in seinem Leben, daß der Fürst einen richtigen Zirkus sah. Wohl hatte vor vielen Jahren die durchlauchte und inzwischen längst selige Mama gelegentlich zu Geburtstagsfesten des Erbprinzen einen Zauberer oder einen Jongleur kommen lassen, aber der ebenso durchlauchte und selige Papa hatte diese Art der Unterhaltung aus pädagogischen Gründen ungern gesehen, und ein ganzer Zirkus hatte sich wahrscheinlich noch nie bis in die Umgebung des Schlosses verirrt

So war es erklärlich, daß der Fürst jetzt nicht einmal halb begriff, was da um ihn vorging. Zu seiner Verwirrung trug vor allem das Fehlen eines Publikums bei, er ahnte gar nicht, daß ein solches eigentlich dazugehört hatte, und tatsächlich hatte diese

Vorstellung, welche die Artisten hier nur einander gaben, etwas von einer Feier einer etwas seltsamen Gemeinde. Daß ein Tempel leicht zu groß für die paar Gläubigen ist, wußte der Fürst von seiner Schloßkapelle, die seit seiner eigenen Taufe nie mehr voll gewesen war.

Und im übrigen war es wunderbar. Solange das kleine Orchester spielte, vergaß man sowieso den Sturm, wenn aber dann an den atemberaubenden Höhepunkten die Musik aussetzte, steigerte das Ächzen und Knarren der Zeltstangen und Taue die Spannung fast unerträglich.

Geboten wurde alles, was ein mittelgroßer Zirkus bieten kann: Trapezkünstler, die wie Engel durch die Kuppel flogen; Löwen, die wie Wappentiere auf Postamenten Männchen machten; Tiger, die durch brennende Reifen sprangen; Hunde, die sich wie Menschen benahmen.

Und so fort

Eine Nummer folgte der anderen. Geklatscht wurde nicht Wer an der Reihe war, löste sich von der Brüstung und kehrte, von einem Tusch des Orchesters begrüßt, durch die Triumphpforte neben dem Podium wieder.

Nach jeder Nummer bangte der Fürst vor der Pause, die draußen auf dem Programm angekündigt war. Statt dessen tanzten jedoch edle Pferde um einen Herrn im roten Rock, der mit einer langen Peitsche um sich schnalzte, eine Inderin verrenkte sich bis zur Unkenntlichkeit, und zwei Chinesen warfen einander rohe Eier zu, die sie auf Tellern auffingen, während die Zeltstangen und Seile ächzten.

Eben hatten sich die Chinesen zurückgezogen und die Musiker legten die Noten für den nächsten Marsch auf, als der Zwischenfall eintrat der den Fürsten plötzlich seiner Rolle als Zuschauer enthob: Ein Sturmstoß, der beinahe das Zelt aus den Angeln riß, trieb den Reitzylinder in die Manege.

Es war, als ob der Hut seinen Herrn suchte. Zielbewußt rollte er auf den Fürsten zu. Als dieser ihn aber fassen wollte, blies es unvermittelt von hinten - wahrscheinlich durch ein Loch, das die Bö in die Zeltleinwand gefetzt hatte - und der verhexte Hut drehte von seinem Herrn ab.

Der Fürst fühlte, wie alle Augen auf ihn gerichtet waren, und dann tat er, was er tun mußte, sprang dem Hut nach in die Rund und jagte ihn dort im Kreis, bis er schließlich stolperte und in das feuchte Sägemehl stürzte, mit dem verbeulten Hut nun in der Hand.

Als sich der Fürst aufrichtete und das häßliche Ding abklopfte, schmetterte eine Fanfare. Die Artisten klatschten begeistert

Der Fürst lachte verlegen und stülpte den Hut auf.

„Das ist nämlich mein Hut“, erklärte er.

In einer anderen Geschichte wäre nun der Fürst von dem Herrn im roten Rock, der natürlich niemand geringerer als der Direktor war, inständig gebeten worden, den Posten des unterwegs abhanden gekommenen Clowns zu übernehmen. Vielleicht wäre damit angedeutet worden, daß unter den draußen obwaltenden Umständen die lustigen Personen schon so rar geworden waren und man deshalb einen unfreiwilligen Komiker brauchte.

Vermutlich wäre auch der Fürst einverstanden gewesen und gern aus seiner Haut geschlüpft. Dann wäre auch nichts mehr im Weg gestanden, daß er die zauberhafte Zirkusprinzessin, die auf dem betroddelten Ele-phanten in die Manege ritt und sich auf den ersten Blick in ihn verliebte, zur annähernd standesgemäßen Frau bekommen hätte.

So allerdings merkte der Fürst nur, daß der Beifall nicht ihm galt, sondern über seinen Kopf hinweg rauschte. Er drehte sich um, sah vor sich den Elefanten und auf dem Elefanten ein halbnacktes, dekoratives Mädchen, das den Applaus mit ausgebreiteten Armen auffing. Dann warf die Zirkusprinzessin eine Kußhand zu ihm herunter, und der Fürst lüftete, weil er ein Kavalier war, den dummen Hut Und ging auf seinen Platz zurück.

„Sie hat heute Geburtstag“, flüsterte ihm der Chinese zu.

„Ach so“, sagte der Fürst enttäuscht.

Er blieb nur deshalb noch, weil er vor sich und den anderen nicht den Eindruck erwecken wollte, daß er jemandem böse war oder gar als Besiegter ein Feld räumte. Wenn die Zirkusprinzessin zu im herüberschaute, errötete er, soweit er das in seinem Alter vermochte, obwohl er fast sicher war, daß sie gar nicht ihn meinte. Der graue Koloß unter ihr produzierte sich auf zwei Beinen und blies auf einer Trompete, die sie ihm in den Rüssel steckte. Das Orchester begleitete ihn.

Danach kam die Pause.

Niemand beachtete den Fürsten, wie er das Zelt verließ.

„Schade, daß Sie nicht auch die zweite Hälfte erleben“, meinte die dicke Dame an der Kasse.

„Sehr schade“, meinte auch der Fürst, weil er ein Kavalier war. „Ganz bestimmt.“ Er lüftete wiederum den Hut und dabei fiel ihm auch wieder die Frage ein, die er ihr schon vorhin hatte stellen wollen: „Wie sind Sie eigentlich an diesen gottverlassenen Ort geraten?“

Die Dame zuckte mit den Achseln. „Im Wald war es zu eng zum Umkehren.“

„Das tut mir leid“, versicherte der Fürst.

„Wieso?“ wehrte die Dame ab. „Man ist ja ganz gern einmal unter sich, nicht wahr?“

Dem wußte der Fürst nichts zu erwidern. Er tappte durch die nun pechschwarze Nacht zum Tor, der Sturm schob ihn vor sich her. Dürres Laub flatterte in unsichtbaren Schwärmen. Es war sehr kalt geworden.

Halbnackt auf diesem Elefanten! dachte der Fürst. Ich muß ihr etwas Warmes schicken.

Aber am nächsten Morgen, als die Sonne strahlend aufging und der Park unter tiefem Schnee lag, war von dem Zirkus keine Spur mehr zu sehen. Der Fürst ließ den Glühwein an das Gesinde ausschenken und hing den Zobel seiner Mama zurück in den Mottenspind.

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