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Zauberflöte 1941

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Am Rande der Stadt Tarnopol hielten wir einige Stunden Rast. Die Fahrzeuge, die. wir von der Reparaturwerkstätte der Division zu unserer Truppe nach vorne zu befördern hatten, standen auf einem kleinen Platz, der einem ebenerdigen Ziegelhaus vorgelagert war. Vor dem Gebäude, einer ehemaligen Schule, lag ein Berg von Rechenbüchern und verschiedenem Schulgerät, das man mit der Schaufel aus dem Innern auf den Misthaufen transportiert hatte, um durchziehenden Truppen Nächtigungsmöglich- keiten zu sichern. Uber diese bunte, vollständig durcheinandergebrachte Menschenwelt mit einer verlassenen, soeben eroberten Stadt im Hintergrund, wölbte sich ein herrlicher, wolkenloser Sommerhimmel. Wir hatten auf den Waldstraßen unterwegs keine Verpflegung bekommen können. Hier umgaben uns nun plötzlich herrenlos gewordene gak- kernde Hühner und schnatternde Enten. Schnell waren sie geschlachtet, grob gerupft, am Feuer, das mit dem trockenen Holz von Schulbänken besonders gut brannte, rasch gargekocht und binnen einundeinhalb Stunden waren wir satt.

Soldaten, die nichts zu tun haben, sind wie Hunde, die überall schnuppern, wittern und äugen. Es ist nun einmal eine romantische Lust des zivilisierten Menschen moderner Polizeistaaten, in jede fremde Ecke zu lugen, überall etwas zu stehlen — zu organisieren, wie man so schön sagt —, das er eine Zeitlang mit sich schleppt, bis er es wegwirft und durch Neues ersetzt… Solcher Hang hat eine kleine Gruppe von SS-Leuten, die uns fremd war, in den Vorratskeller des Schulmeisters geführt und auf die Kartoffeln treten lassen. Eine menschliche Stimme schrie auf und bald hatten sie ein rotbärtiges, jammerndes Geschöpf an das grelle Licht des Tages und ihres Gespötts gezerrt. Während nun die andern nach neuen lohnenderen Dingen spürten, blieb einer — es war der Jüngste — zurück und beschäftigte sich mit dem Juden, der aus irgendeinem Grund vom Flüchtlingsstrom abgesprengt worden war. Er band dessen Haar mit einem Strick und zerrte ihn hin und her, indem er untersuchte, wie viele Arten von Fußtritten man an einer menschlichen Gestalt anzusetzen vermag. Der polnische Jude verstand natürlich deutsch und beschwor und flehte. Aber seine Sprachkenntnls sollte nur die Vergrößerung seines Martyriums bewirken. Die Stunde seiner Erschießung wurde ihm gesagt und eine weitere Gnadenstunde in Aussicht gestellt, wenn er sich in dem Massaker brav halten würde.

Ihr Männer im Schützenloch, die ihr den Tod, in schwarzen Panzern eingeschlossen, über den Horizont heranrollen saht, und, mit den Fingern auf dem SMG-Hahn, kämpfend ihm zu trotzen bereit ward, Männer und Frauen, die ihr auf das Schafott, auf die Guillotine steigen mußtet, Ihr habt nicht ein kleinstes Teilchen von dem gelitten, was diesem Juden auferlegt war. Ihr ginget tätighoffend oder jn der Würde des Unglücks bis zum Ende. Diese Kreatur sollte bis zur Unkenntlichkeit lebend zerstampft, ihr. der Seele schon beraubter Rest wie Mist in den Abgrund gekehrt werden.

Ich stand zehn Meter davon entfernt und wußte, daß diese Stunde mich einreiht in eine bestimmte Kategorie des Daseins, sowie meine Geburt mich unumkehrbar eingeordnet hat in Nation und Zeit. Dort stand der 19jährige 5S- Unteroffizier, ein Reserveoffiziersanwärter, hier der 22jährige Wehrmachtssoldat. Wohl ein dutzendmal setzte ich an, hinzugehen und zu sagen: „Du bist ein Schuft.“ Die Angst, die Feigheit erwürgten aber die Stimme in meiner Brust. Und was ich dem Unteroffizier nicht zu sagen imstande war, schrie ich, mich selbst anklagend, ins eigene Bewußtsein. Wo sollte ich hin? Ich wagte nicht den Ort meiner inneren Richtstätte zu verlassen. Ich vermochte aber auch nicht zuzusehen und zuzuhören. Ich wußte, daß meine Entscheidung gefallen ist, daß ich in die Gruppe der Lauen gehöre, die nach dem Wortlaut der Apokalypse aus dem Munde gespien werden. Ich setzte mich an die abseitige Hauswand und verschloß die Ohren mit den Fingern, um das Schreien des unglücklichen Menschen nicht zu hören. Trotzdem klang es durch die Pforte des Ohres herein. Ich dachte intensiv an Musik; ich bin Klangeidetikerund vermag Orchesterstücke gleichsam als Klanghalluzination zu hören. Das Vorspiel der Es-dur-Symphonie von Mozart erklingt, aber die Dissonanz im 15. Takt wird mir zum Geschrei des Gequälten. Ich stehe auf und suche, um irgend etwas zu tun, in dem Bücher- haijifen vor der Schjile herum. Ein echt russisches Normpatiphon ist auch darunter. Sogar eine Nadel ist daran. Platten — ein ganzer Bergl Molotows Reden in bndlosen Fortsetzungen. Aber, was ist das? „Bolschebnaja Fleta“ die Zauber- flötje! Taminos Flötenarie. Mit zitternden Händen lege ich die Platte auf. Wenn die Feder gerissen ist? Wenn die Platte schon ganz abgespielt und zerkratzt ist? Nein, sie klingt gut. Die Klänge der Flöte steigen aus dem Apparat. Der Unteroffizier hält inne, das Seil in der Hand, an dem der Jude wie ein armer Affe hängt. Eine Erinnerung an Heimat, Mutter, Schule, halb verschlafene, halb verträumte Kunsterziehungsstunden, an die autoritäre Welt des Elternhauses, aus der er so plötzlich selbst zur Autorität über Rekruten und Soldaten anstieg, schien wie ein Schleier über seine Stirne gesenkt. Die Schnur entfiel seiner Hand. Er hörte wie versunken. Das veränderte Bild gab dem Gemarterten neue Hoffnung und damit neue Kraft. Auf seinen zerschundenen Gliedmassen humpelte er plötzlich querfeldein, einem Waldrand zu, wobei ihm der Strick wie eine Schlange folgte. Der Feldwebel sah es lachend. Er zog den Revolver, zielte, ohne zu schießen und sagte: „Der Hund hat sowieso genug.“

Wohin wirst du laufen? Wer wird dich wieder einfangen? Aber was ist das Leben mehr als eine kürzere oder längere Frist? Jetzt scheint die Sonne! In den Wald wirst du wie in einen Tempel des Lebens eintreten und wirst glücklicher 6ein als ein Mensch, der nie eine solche Last getragen hat. Die Spannung legte sich in mir, ich ging abseits und weinte erleichtert. Gibt es eine Rechtfertigung durch die Kunst, fragte ich mich. Und das frage ich auch noch heute.

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