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Kardinal Suenens: Zwei Arten von Christentum

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Wie muß man heute, mit zwölf Jahren Abstand, das Konzil beurteilen, wie die nachkonziliare Zeit? Kann man darin ein neues Pfingsten sehen oder muß man sie eher als einen verwirrten und verwirrenden Zeitabschnitt kommentieren? War es eine Zeit der Unordnung, des Rückgangs, des Verfalls der Religion, was wir seit 1965 durchlebt haben? Bedeutet diese Zeit einen Aufschwung oder einen Verfall der Kirche? Wie sieht es der Erzbischof von Mecheln-Brüssel, Leo Jozef Kardinal Suenens?

„Ich glaube, wir erleben eine an Hoffnung reiche Zeit“, meint er, „aber auch eine komplexe und ambivalente Zeit. Aber ich meine, das Zweite Vatikanum wird mit der zeitlichen Distanz immer mehr als ein großes Datum in der Kirchengeschichte erscheinen. Um die gegenwärtige religiöse Situation gerecht zu beurteilen, muß man das Konzil zunächst im Gesamt einer religiösen Evolution sehen. Das Zweite Vatikanum hatte sich mit Bedacht die Kirche in ihrem inneren und äußeren Verhalten als Zentrum des Interesses und der Aufmerksamkeit gewählt. Man muß es also in bezug auf dieses zentrale Thema beurteilen und nicht in bezug auf solche Elemente, die nicht direkt Teil seines Programmes waren; dieses zeichnete sich erst am Ende der ersten Sitzungsperiode ab.

Wir sagen „direkt“, weil die Kirche ihre Beziehung zu Gott, zu Christus und zum Geist einerseits, zur Welt anderseits nicht aufgeben kann. Genau auf diesen verschiedenen Ebenen vollziehen sich vor unseren Augen Evolutionen, sowohl auf der Ebene des theologischen Denkens als auch in den außergewöhnlichen Veränderungen der Welt. Während das Konzil die ek- klesiologischen Probleme unter pa- storalem Gesichtspunkt studierte, stellte das zeitgenössische Denken das Gottesbild, das Bild Jesu Christi und die Gegenwart der Kirche in einer Welt in Frage, die täglich mit neuen Problemen von ihr Auskunft verlangt. Hier hat die gegenwärtige Krise größtenteils ihren Ort.“

Die zehn Jahre nach dem Konzil waren besonders geprägt von einer Infragestellung des Gottesbildes. Aber nicht alles an dieser Fragestellung war für Suenens negativ. „Ich glaube, man kann sagen, daß ein gewisser Gott tot ist, der Gott des Deismus, der unbewegte Beweger dés Aristoteles, der pa- ternalistische und interventionistische Gott. Anderseits glaube ich, daß der Gott und Vater Jesu Christi aus diesem Konflikt lebendiger denn je hervorgegangen ist und daß wir dabei sind, den Gott Pascals, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den menschenfreundlichen, nahen Gott, den Schöpfergott, für den die Fleischwerdung der letzte Sinn des Kosmos und der Schöpfung selbst ist, wiederzuentdecken. Krise Gottes ja, aber Krise im Sinn von ,krinein’, von Läuterung, von Wiederentdeckung eines zugleich transzendenten und dem Herzen der Menschen und der Welt immanenten Gottes“.

Während sich dieses „Drama Gottes“ abspielte, wurde auch das Bild Jesu Christi revidiert. Die Theologie wird immer zwischen der Antiocheni- schen und der Alexandrinischen Schule hin- und herpendeln. Wir mußten darauf bestehen, daß Christus- nicht halb Gott, halb Mensch ist, daß er Mensch nicht trotz, sondern wegen seiner Gottheit ist und daß seine Vereinigung mit dem „Wort“ seine Menschlichkeit zu ihrer höchsten Würde bringt. An dieser Stelle zitierte der Kardinal ein Wort Karl Rahners: „Wir mußten begreifen, daß der Mensch zutiefst jenes Wesen ist, zu dem Gott werden kann, wenn er Fleisch annimmt.“ Im letzten Jahrhundert haben wir manchmal Fleischwerdung und Theophanie verwechselt, das heißt den Aspekt „Gottheit“ auf Kosten der „Menschlichkeit“ Jesu betont. Durch die andersgerichteten Übertreibungen des letzten Jahrzehnts hindurch wird ein Gleichgewicht gesucht. Eine besser abgesicherte Christologie zeichnet sich allmählich ab. Aber man mußte die durch Bultmann hervorgerufene Krise, die Anfrage eines Buches wie jenem von Robinson, „Honest to God“ und viele andere Infragestellungen durchstehen.

Der Kardinal kam dann auf die neue Polarisierung in der gegenwärtigen Kirche zu sprechen: „Genaugenommen gibt es gegenwärtig nicht zwei Arten von Christen, sondern zwei Arten von Christentum, die nur schwer im

Grundsätzlichen Übereinkommen können. Die einen berufen sich auf die vertikale und geistliche Linie, die anderen berufen sich auf die horizontale Linie, die das weltliche, soziale und politische Engagement betont.“

Zwischen einem an Gott orientierten Christentum, dem man vorwarf, die quälenden Probleme der Menschen und die Not der Welt zu übersehen, und einem am Menschen orientierten Christentum, das Mühe hat, seine christliche Identität zu wahren, muß der Bischof der Mann der Versöhnung sein, der sein Leben lang auf der Komplementarität der Charismen in ein und derselben Kirche besteht, auf der Notwendigkeit, zugleich den Vorrang Gottes und die unverzichtbare Sorge für die Brüder, vor allem die ärmsten, zu respektieren. „Wir haben nicht das Recht, die Dramen zu übersehen, die die Menschen peinigen“.

Gott in den Vordergrund stellen, heißt nicht, die sozialen Dringlichkeiten verkennen. Es ist der erste soziale Dienst, den man der Gesellschaft leisten kann und muß. Diese hat es nötig, ihre Orientierung und ihr fundamentales Gleichgewicht zu finden - wiederzufinden. Gott in den Vordergrund stellen, heißt auch anerkennen, daß das gesellschaftliche Leid nicht nur institutioneller Art ist, sondern auch im Herzen der Menschen, durch ihre Egoismen und ihre Sünden entsteht. Das Sprichwort „quid leges sine moribus“ ist ebenso treffend wie seine Umkehrung „quid mores sine legibus“. Die Änderung des Menschen ist ebenso wichtig wie die Änderung der Strukturen und keines kann gegen das andere ausgespielt werden.

Auf die Zukunft der Kirche angesprochen, sagte der Kardinal: „Aus dem Glauben heraus weiß ich, daß die Kirche alle Gewitter durchschreiten wird, aber ich glaube, daß wir gegenwärtig in einer entscheidenden Geschichtsphase leben, in der die Christen eingeladen, ja aufgefordert sind, ihr Christ-Sein viel radikaler zu leben als je zuvor. Wir brauchen den Mut des ersten Papstes Petrus. Man muß zur gegebenen Zeit den Mut haben, auf dem Wasser zu gehen“, schloß der Kardinal.

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