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In Gottes Labyrinth

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Der Kampf Nietzsches gegen das Christentum ist nicht in eine Front mit dem modernen Kulturkampf des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu bringen. Hier liegt ein Tieferes vor. Von der einzigen Tugend der „Redlichkeit“ und dem einzigen Ideal der „'Wohlgeratenheit“ — des ganzen Menschen antiker Prägung —, die er gelten läßt, ausblickend, ist ihm die Achtung auch vor der glaubensmäßigen Überzeugung — so sehr ihm Überzeugungen sonst als Verkrampfungen dekadenter Dualismen verhaßt sind — durchaus nicht fremd. So hatte er in dem Leben und dem Opfertod Christi das hehrste Beispiel einer vollkommenen Ubereinstimmung von Leben und Lehre immer geehrt, das Christentum als „idealstes Stück Leben, das er kennengelernt“, geachtet. Das christliche Erlösungsbedürfnis, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse immerhin, „ ... ist die ehrlichste Ausdrucksform der decadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen“. Ist der Schritt von hier zu dem Zarathustra-Wort, daß der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse, allzuweit? Seine fanatische Feindschaft gilt vielmehr allen Phasen der Entwicklung des Christentums als historischer Erscheinung, in denen die Lehre ihm nur als Verschleierung des Machtwillens zu d;enen scheint, so dem, was er als paulinisches Christentum bezeichnet, das ihm als die erste große Verfälschung der Lehre Christi gilt, so der protestantischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein, in der er gerade die Heiligung durch das getane Werk vermißt, und dem so überaus weitklaffenden Gegensatz zwischen einem Lippen- und Scheinbekenntnis und der kaum mehr verhüllten Machtgier des Bürgerchristentums seiner Zeit. Denken wir hinzu, was echte Gegnerschaft bei Nietzsche immer bedeutete: Anerkennung eines ihm zutiefst Ebenbürtigen, ja Streit mit den tiefsten Tiefen seines ureigensten Wesens — vor allem und zuhöchst mit dem Mitleid, mit dem abgründigen Schmerz über die Erkenntnis des „tollen Menschen“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ und im Zarathustra: daß Gott tot sei. Das Gebet der Furcht der goetheschen Iphigenie: „Rettet mich und rettet Euer Bild in meiner Seele“, ist hier dem Verzweiflungsschrei aus' der Katastrophe gewichen, mit beiden Worten das religiöse Schicksal eines Jahrhunderts umrahmt. Und nicht zuletzt: Es ist freilich müßig, zu denken, wie und ob sich Nietzsches Stellung zu Gott, Religion, Christentum etwa noch gewandelt hätte, wenn er der hereinbrechenden Umnachtung noch einmal Herr geworden wäre. Der Wahnsinn gehört zu seiner Geistgestalt, in der er vor uns lebendig ist, wie er zu der Hölderlins gehört, dessen jüngerer Bruder Nietzsche war. Aber wie jüngst in eben diesen Blättern dieses Schicksal Hölderlins im Zusammenhang mit jüngsten Forschungen eine Deutung erfuhr, die es als eine Überwältigung durch das strahlende Licht des göttlichen Heils auslegte, so muß doch auch zu denken geben, daß das Rätsel der Wahrheit Gottes Nietzsche niemals zur Ruhe kommen ließ, daß es für ihn niemals abgetan war und sonach seinen Äußerungen darüber niemals der Charakter des Endgültigen innewohnt.

Er nahm den Gedanken, daß Gott tot sei, als eine Tatsache seiner Zeit und seiner Welt, einer Welt, in der kaum mehr der Gedanke, geschweige denn die Nachfolge durch die vorbildhafte Tat sich zu Gott zu erheben vermochte. Der Folgen dieser furchtbaren Erkenntnis für die Welt und die Menschen war er sich voll bewußt. All sein weiteres denkerisches Ringen geht darum, dieses furchtbare Leben ohne Gott den Menschen überhaupt lebbar zu machen und es vor dem Sturz in die Halbheit, in das Nichts, in Pessimismus und Nihilismus als abend-1 ländische Krankheiten, die er allenthalben um sich greifen sah, zu bewahren.

Dem galt sein „Also sprach Zarathustra“, die Dichtung vom kommenden Übermenschen. Ausdrücklich sei erinnert, daß Zarathustra selbst nicht der Übermensch ist, sondern sein Vorbereiter. Völlig abwegig ist aber, zu meinen, Nietzsche hätte im Übermenschen ein Bild seines eigenen Wesens gestalten wollen. Nicht einmal Zarathustra ist Nietzsche gleichzusetzen. Auch in ihm zeichnet der Denker nur ein Wunschbild seines Wesens, von dessen Überhöhung er sich immer schmerzlich bewußt geblieben sein muß.

Die harte Realität des Lebens ohne Gott, die aber, wenn wir Nietzsches Lehre von der perspektivischen Wahrheit auf sie anwenden, auch nicht als absolute, unabänderliche Tatsache gefaßt werden darf, verlangt, wenn sie sinnvoll ertragen werden soll, das J a zu ihr, den „amor fati“, und, damit zusammenhängend, den Gedanken von der „ewigen Wiederkunft“, wenn man will, zwei weitere Säkularisierungsformen zweier christlicher Grundvorstellungen — des Beugens unter die manchmal auch harte Hand Gottes und des Ewigkeitsglaubens. Daß es hier Nietzsche um mehr ging als bloß um den denkerischen Befund, beweist das Symbol, in dem ihm dies „ewige Ja des Seins“ immer von neuem entgegentönte, und das er, wie der Falter die Flamme umkreiste: das Symbol: Dionysos, der „unbekannte Gott“, zu dem sich ihm das Leben letzten Endes doch vergottete: „... sein bin ich — und ich fühl die Schlingen, / die mich im Kampf darnieder ziehn / und, mag ich fliehn, / mich doch zu seinem Dienste zwingen. / Ich will dich kennen, Unbekannter, / ... ich will dich kennen, selbst dir dienen.“

Dionysos wird ihm einen Augenblick zum Gegenpol der Lehre Christi. „Dionysos oder der Gekreuzigte“ hieß eine Zeitlang die Formel, nach der sich die Menschheit entscheiden sollte. Als aber Friedrich Nietzsche, der wußte, daß eine Lehre so viel an Wahrheitsgehalt berge, als es gelinge, von ihr zu verwirklichen, daranging, sie ins Werk zu setzen, als ihn in der siebenten seiner Einsamkeiten, da Freunde und Weggefährten, der Mensch im landläufigen Sinne überhaupt, hinter ihm lagen, wie die vergreisten Landschaften abgelebter Zeiten, der Flügelschlag der schwersten Einsicht streifte, daß, wenn eine Wahrheit ohne Nachfolge blieb, ihr Entdecker sie vorleben müsse, und er mit den letzten

Schriften: „Götzendämmerung“ und „Der Antichrist'1, 1889, die letzten Sicherungen durchbrannte, die ihm noch das bürgerliche Dasein möglich machten, und er den Menschen im herkömmlichen Sinne überwand, da beginnt still neben Dionysos die Gestalt Christi zu leuchten. Der Recht-fertigungsschrift und Selbstdarstellung, in der er die Geschichte seiner Selbstüberwindung aufzeichnete, gibt er bezeichnenderweise den Titel „Eccehomo“, 1889. Man banne das aufsteigende Gefühl, eine beispiellos blasphemische Anbiederung vor sich zu haben. Noch einmal: Seiner Lehre in der Selbstüberwindung seines Menschentums nachgelebt und sie damit der Menschheit beispielhaft vorgelebt zu haben, das galt ihm nicht allein als das Verehrungswürdigste an Jesus Christus, es war ihm zugleich das wesentlichste Merkmal jenes höheren Menschentums, von dem er zu wissen glaubte, daß sein Geheimnis für den, der ihm nahekomme, tödlich sei. Das Geheimnis höheren Menschentums, das ist durchaus noch nicht das Mysterium Gottes, so müssen wir sagen. Aber dürfen wir nicht auch weiter folgern, nur über jenes höhere Menschentum, das Nietzsche mit Lehre und Ins-Werk-Setzen erwecken wollte, ist heute ein Heimfinden in jenes höchste Mysterium möglich. Daß Nietzsche mit seinem Alarmruf „Gott ist tot“ der modernen Menschheit einen Weg zu Gott, den der Realisierung, der Nachfolge und Selbstüberwindung neu gewiesen hatte, wenn er ihn auch nicht selbst bis ans Ende ging, sondern im Vorhof des höheren Menschentums stehenblieb und nupmehr mit der Losung „Dionysos und der Gekreuzigte“ das höhere Menschentum der „guten Europäer“ in einem übernationalen geeinten Europa sammeln und organisieren wollte, läßt sich ebensowenig übersehen, wie daß an diesem Ruf sich wesentliche Kräfte der modernen religiösen Erneuerung und Neubesinnung entzündet haben — man denke etwa an die dialektische Theologie und Karl Barth, deren Ahnherr ja nicht allein Kierkegaard ist, oder den religiösen Existentialismus; ja selbst Leon Bloy liest sich auf weite Strecken wie ein gewollter Komplementärtext zur Lehre Nietzsches — und sich auch heute noch entfalten können, da der Ruf, das Christentum gegen Gewalt, Staatsomnipotenz und Totalitarisrims einfach darzuleben, heute in Europa immer dringender wird, und die Gefahr, daß Gott tot sei — für das Bewußtsein und die Taten der Menschen nämlich — noch immer nicht gebannt ist.

„Wer das Große konzipiert hat, muß es auch leben.“ Was ihn noch als Mensch-lich-Allzumenschltches des eigenen Wesens davon trennen mochte, er überwand es im Bilde des Gekreuzigten. Als solcher wie als Dionysos unterzeichnet er die „Wahnsinns“-Briefe an Overbeck, Peter Gast, Strindberg, Cosima Wagner und andere um die Jahreswende 1888/89.

Es liegt demnach kein Anlaß vor, mit Thomas Mann anzunehmen, daß Nietzsche, dessen Todestag sich am 25. August zum 50. Male jährt, historisch geworden sei. Die Klage der Ariadne in den Dionysos-Dithyramben: „O komm zurück / mein unbekannter Gott! mein Schmerz / mein letztes Glück!“ — wer wollte leugnen, daß sie — bewußt oder unbewußt — die Klage der modernen Menschheit heute erst recht wieder ist, und heute mehr denn je die Antwort des Gottes: „Muß man sich nicht erst hassen, wenn man / sich lieben soll? ...“ / Ich bin dein Labyrinth ...“ eine sinnvolle Antwort auf diese Klage sein könnte.

Der sich in diesem Labyrinth mit dem zuhöchst moralischen Fanatismus des Wahrheitssuchers zurechtfinden wollte, Friedrich Nietzsche — er hat Ausgang und Mündung nicht mehr erreicht. So erhob er dies Labyrinth zu seiner endgültigen geistigen Daseinsform — und das hat man seinen Wahnsinn genannt.

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