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Der König verbarg sich

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Es würde uns wohl erschüttern, wenn wir uns die Hoffnungen und Ahnungen vergegenwärtigen könnten, mit denen das 19. Jahrhundert begrüßt wurde. Ernst gestimmte Geister blickten mit sdiwerer Bang- nis in das Künftige; andere gaben sich ungemessenen Hoffnungen hin. In Wahrheit hatte das ausgehende Jahrhundert mit gewaltigen geistigen und politischen Katastrophen dem anbrechenden eine Aufgabe hingeworfen., deren Bewältigung uns heute kaum möglich scheint. Zu sehr sind wir vielleicht geneigt, das 19. Jahrhundert im Schatten dieses Versagens zu sehen; es war eine an hohen geistigen Leistungen unerhört reiche, freilich furchtbar aufgewühlte Zeit, deren gerechte Beurteilung erst dann möglich wäre, wenn die ganze Not dieser Epoche deutlich würde — wenn sie endlich einmal, auf einen Nenner gebracht, genannt werden würde. Die Menschheit befand sich in der Lage eines Volkes, das sich von seinem König losgesagt hat, ohne ihn aber sich nicht zu regieren vermag. Um es ganz deutlich zu sagen: Christus ward in seinem Rechte nicht mehr erkannt. Und doch trugen — gestern wie heute — alle Dinge sein Siegel; um den Verlust dieser Herrschermacht, um die Gestalt des Königs selbst entbrannte eine Not ohnegleichen. Der König verbarg sich, aber aus dieser Verborgenheit rief er Menschen und Völker an; die Geister, die diesen Ruf in seiner ganzen herzbewegenden Stärke vernahmen, gerieten in einen entsetzlichen Widerspruch mit sich selbst und der Zeit, den unmißverständlich auszusprechen vielleicht nicht möglich war. Immer deutlicher wurde es, daß es einer neuen Aussage von Christus bedurfte. Wer dies erkannte oder nur ahnte, der konnte leicht dahinkommen, Ihn zu verschweigen. Es ist nicht schwer, zu verstehen, daß, im Streit mit der Zeit und der von ihr geübten fragwürdigen Frömmigkeit, diejenigen' in die Versuchung der Verleugnung, der Abkehr gerieten, die am leidenschaftlichsten um Christus gelitten haben.

Um die brennende Wunde des 19. Jahrhunderts, das Ringen um Christus, die Fähigkeit, ihn nieder allzusprechen, geht es in dem Buche Walter Niggs „Religiöse Denker“ , desselben evangelischen Theologen, dem wir das weiträumige, verständnisbereite Buch über „Große Heilige“ verdanken. Keiner der hier Dargestellten stand in der Kirche, wohl ein jeder hatte ein sehr eigenmächtiges Verhältnis zur Schrift und Tradition, so kann die Aussage von Christus im Ja und Nein — um dies vorwegzunehmen — nur eine unbestimmte sein. Dem Verfasser ist es darum zu tun, mit der größten möglichen Offenheit des Verständnisses das religiöse Ringen aufzunehmen, einem jedem in seinem Felde wirklich gerecht zu werden. Es versteht sich, daß dieser seltene Vorzug mit einer gewissen Unentschiedenheit erkauft wird, mit der Bereitschaft, Möglichkeiten freizulassen, die für die entschiedenste Überzeugung nicht frei sind. Der große, bewegende Eindruck, den das Buch vermittelt, ist der vom Leiden um Christus, dem Abwesenden, Gesuchten, Gemiedenen; um Christus, der endlich nur den unbedingt sich ihm Unterwerfenden erlöst und frei macht; um Christus, der auch die ihn Verleugnenden bindet.

Der Kampf spielte sich unter bestürzenr den Ahnungen ab. Kierkegaard erwartete den „totalen Bankerott, dem ganz Europa entgegengeht“, Dostojewskij einen Weltkrieg und die „totale Veränderung des Antlitzes dieser Welt“, Nietzsche fragte: „Stürzen wir nicht fortwährend?", van Gogh fühlte sich „im letzten Viertel eines Jahrhunderts, das wieder mit einer gewaltigen Revolution enden wird.“ Dieses prophetische Zeitgefühl

1 Walter Nigg, „Religiöse Denker. Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, van Gogh.“ Verlag Büchergilde Gutenberg, Zürich 1948,

hat einen mächtigen Anteil am „Gerichtsurteil" Kierkegaards über das Christentum seiner Zeit, dem „apokalyptischen Christentum“ Dostojewskijs, an Nietzsches Proklamation des „gestorbenen" Gottes, an van Goghs Bestreben, „armen Menschen Frieden zu geben mit ihrem Erdengeschick", Trost durch die Kunst.

Gefährlich wie das Jahrhundert sind die Wege des Denkens, Kierkegaards Lehre von der „Unkenntlichkeit Christi“, Dostojewskijs Verkündung des „russischen Christus". Auf die Feinheit und Sicherheit der Unterscheidungen kommt hier alles an. Walter Nigg bestreitet modernen Auslegern nachdrücklich das Recht, Kierkegaards Darlegung der Existenz und des Christentums als einer „Existenzmitteilung“ aus der Sphäre tiefster religiöser Not zu lösen und in die neue Philosophie zu tragen — wie er andererseits versucht, Dostojewskijs Bild des russischen Christus aus dem Nationalen zu lösen: russisch bedeutet für Dostojewskij das schlechthin Unaussprechliche, Allumfassende; so entspricht dem Bild des russischen Christus auch ein neues Bild des Menschen: der „Allmensch“, der auf die Vereinigung der Menschheit gerichtet ist. Die Deutung Nietzsches wird versucht von einer „Mitte", die sowohl die christliche wie die atheistische Interpretation ablehnt. Inwieweit es möglich ist, die Verkündung des Dionysos in den Bereich des echt Religiösen, das heißt doch der Ehrfurcht und Liebe, einzubeziehen, bleibe eine Frage. Sicher hat auch Nietzsche einen damals vernachlässigten Teil des Ganzen gewollt, aber es widerstrebt uns doch, Nietzsches Ekstase in Beziehung zu den Erfahrungen des hl. Franz von Assisi und der Mystiker zu setzen. Zarathustra, Dionysos können Symbole sein, Christus am Kreuz ist nicht Symbol, er ist die Wahrheit. Darum ist es nicht möglich, „Dionysos als den vorgefühlten Christus und Christus als die Erfüllung des Dionysos zu begreifen". Das erschütterndste Wort der Ehrfurcht verdanken wir van Gogh:

„Wenn ich hier bleibe, werde ich nicht versuchen, einen Christus im Olivengarten zu ntalen; vielmehr die Olivenernte, so wie man sie noch sieht, und wenn ich darin die wahren Verhältnisse der menschlichen Gestalt empfinde, so kann man dabei an jenes denken."

Die ist in der Tat ein Anfang über alles Begreifen hinaus, bezahlt mit unsäglichem Leiden, aber auch mit Verdüsterung, Schwermut, Krankheit der Seele, die in van Goghs Kunst nicht übersehen werden dürfen. Da-

mit vom Christentum wieder die Rede sein könne, müsse erst eines Dichters Herz brechen — sagte Kierkegaard und dieser Dichter sei er selbst, und van Gogh bekannte: „Wir Künstler der heutigen Gesellschaft sind nur zerschlagene Kreuze.“

Das ist es: zerschlagene, aber doch Kreuze, Zeichen des Daseins, der geheimen Macht des Herrn und vielleicht die in grauenvoller Zeit überwundenen, dennoch unabweislichen Zeugen seiner Wiederkunft.

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