Systemkritik, ja bitte - aber konkret und rational!
Es sollte kein Tabu sein, das „System“ zu kritisieren. Aber wenn es um die politischen Fundamente geht, darf man dies nicht Demagogen, Zynikern und Chaoten überlassen. Ein Gastkommentar.
Es sollte kein Tabu sein, das „System“ zu kritisieren. Aber wenn es um die politischen Fundamente geht, darf man dies nicht Demagogen, Zynikern und Chaoten überlassen. Ein Gastkommentar.
In den Siebziger Jahren gehörte ich zu den „Systemkritikern“ – und zwar zu den kompromisslosen. Das System, das wir meinten und ablehnten, war das kapitalistische Wirtschaftssystem. Laut Marx, Engels, Lenin & Genoss(inn)en ist der Kapitalismus für alle bekannten Übel dieser Welt verantwortlich. Weil das politische System immer nur Überbau seiner ökonomischen Basis sein kann, waren auch Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie für uns nichts anderes als mehr oder weniger gut getarnte „Herrschaftsformen des Kapitals“. Dieses „System“ war falsch, ausbeuterisch, anachronistisch.
Wir wollten ein anderes! Ein Wirtschaftssystem, in dem es kein Eigentum an Produktionsmitteln geben sollte – und eine „Rätedemokratie“. Fragte uns jemand, wie wir uns diese „Rätedemokratie“ vorstellen, hatten wir zwar keine konkrete Antwort, aber eine brauchbare Ausrede: Die Arbeiterklasse werde im kreativen Akt der Revolution das bestmögliche politische System hervorbringen. Genaueres wisse man jetzt noch nicht.
Doch, man wusste schon Genaueres, wir hätten halt hinschauen müssen. Die real existierenden Vorbilder für unsere abstrakte proletarische Utopie – Sowjetunion, China, Kuba etc. – hätten uns lehren können, dass die sozialistische Staatswirtschaft nicht Wohlstand und Gerechtigkeit für alle, sondern Armut für viele und Privilegien für wenige hervorbringt. Es wäre auch klar zu erkennen gewesen, dass die linksradikalen Systemalternativen zur „bürgerlichen“ Demokratie ziemlich üble Diktaturen waren.
Ende der eigenen Selbsttäuschung
Irgendwann kam glücklicherweise der Tag, an dem ich die Mechanismen jahrelanger Selbsttäuschung durchschaute. Seit meinem Bruch mit der „Sozialistischen Rätedemokratie“ gehöre ich zu den treuesten Verteidigern einer sozial und ökologisch verantwortbaren Marktwirtschaft, der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaats. Unser „System“ kann auf mich bauen, nicht zuletzt deshalb, weil es durch Meinungs- und Pressefreiheit dafür sorgt, dass seine Schwachstellen, die es zweifellos gibt, auf demokratischem Weg kritisiert werden können. Missstände können aufgedeckt, Regierungen abgewählt, Systemschwächen reformiert werden.
Meine verfassungsfeindliche Vergangenheit liegt weit zurück, aber ich reagiere bis heute sehr hellhörig auf die Vokabel „Systemkritik“. In den letzten Jahren war sie auffällig oft zu hören, allerdings öfter und lauter aus dem rechten Lager als aus dem linken. Freiheitliche Politiker wie Herbert Kickl definieren sich – oft in rüder, bitzeliger Wortwahl – als Kritiker eines angeblich maroden „Systems“, wobei nie klar wird, von welchem „System“ sie eigentlich reden.
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