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Digital In Arbeit

Flucht aus der Arbeit: Rette sich, wer kann

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Warum ist für so viele Menschen das Wichtigste im Leben die Freizeit oder die (Früh-)-Pension geworden? Warum freuen sie sich nur mehr auf Dienstschluß, Wochenende und Urlaub? Diese „Flucht aus der Arbeitswelt” müßte doch endlich zu denken geben.

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Warum ist für so viele Menschen das Wichtigste im Leben die Freizeit oder die (Früh-)-Pension geworden? Warum freuen sie sich nur mehr auf Dienstschluß, Wochenende und Urlaub? Diese „Flucht aus der Arbeitswelt” müßte doch endlich zu denken geben.

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Arbeit zu haben gehört heute - in einer instabil gewordenen Beschäftigungslandschaft- zu den höchstrangigen Prioritäten. Eigenartigerweise gibt es aber gleichzeitig eine Flucht aus der Arbeit. Neben dem „Volkssport Frühpension” sind es noch viele andere Attraktionen, denen die Arbeitnehmer Aufmerksamkeit und Intelligenz widmen: Verlängerte Wochenenden, ausgeklügelte Urlaubs- und Pensionsmathematiken, puzzleartige Kalkulationen hinsichtlich einer günstigen Kombination von „Zeitguthaben” mit sonstigen freien Zeiten. Offensichtlich beginnt das Leben, die Freiheit, die Selbstentfaltung am Werkstor, Freitag zu Mittag, mit Pensionsantritt. Hinweise darauf, daß Arbeit oft belastend ist und manche Leute wirklich ausgebrannt sind, verdecken, daß diese Flucht eine hochgradig pathologische Erscheinung ist.

Es gibt ein zweites Gesicht der Arbeit. Unternehmer, die ihre Mitarbeiter durch interessante Arbeitsinhalte zu freiwilliger Mehrarbeit bewegen; begeisterte Hobbygärtner und eifrige Seniorenstudenten; erschöpfte Bodybuilder, deren Betätigung mit Bergwerksarbeit in Strafkolonien vergleichbar ist; Arbeitnehmer, die in ihrer knappen Freizeit mit Hilfe von Computerspielen stundenlang „Arbeit” simulieren, etwa die von Piloten, Managern, Detektiven oder Jägern; im Sozialbereich freiwillig Tätige, die Alte oder Kinder betreuen; Selbständige, Schriftsteller, Künstler, die aus freien Stücken fast rund um die Uhr „im Dienst” sind.

Unsere Gesellschaft kann sich die Flucht aus der Arbeit nicht mehr leisten. Unser Umgang mit der Arbeit ist ein Skandal ersten Banges - ja noch schlimmer, er ist dumm. Erwerbsarbeit wird an .ihrer Entfaltung gehindert. Nichterwerbsarbeit wird degradiert und verhöhnt. Und die Freizeit wird von allen produktiven Elementen gesäubert.

Eine umfassende, nicht abgehoben philosophierende, sondern auf konkrete wirtschaftliche und soziale Probleme bezogene Diskussion um die verschütteten Dimensionen des Arbeitens ist unausweichlich. Arbeit ist Betätigung am Objekt, Verarbeitung von Wissen und Information in einem realen Netzwerk menschlicher und gegenständlicher Beziehungen, Herstellung von Gegenwart und Zukunft. Arbeit integriert Kunst, Sport, Spiel und Kommunikation. Nur von der Zeit her sind diese Potentiale begrenzt. Hinsichtlich der Entfaltung von Wissen, Kooperation, Steuerung, Kreativität, Kunst und Innovation hingegen ist Arbeit eine „unerschöpfliche” Bessource.

Die Beduktion der Arbeit auf die rein instrumentelle Funktion des Geldverdienens war ein Jahrhundert lang ein ökonomisches Erfolgsrezept für die Arbeitnehmer. Möglicherweise aber auch der verhängnisvollste Fehler der Arbeiterbewegung. Diese hat auf die Karte der Arbeitnehmergesellschaft gesetzt. Das ist etwas anderes als eine Arbeitsgesellschaft.

Eine Arbeit-Nehmer-Gesellschaft organisiert den Verkauf von Arbeitskraft zu möglichst hohen Preisen und günstigen Nebenkonditionen. Inhaltliche Befriedigung bei der Arbeit ist ihr kein Thema. Es geht ihr darum, das vorhandene Arbeitsvolumen zu verwalten, die Arbeitszeit pro Kopf zu limitieren, Dumping - ausgelöst durch einen unkontrollierten Zugang zu „Arbeitsplätzen” - zu verhindern, Mehrarbeit zu verteuern. Wird Arbeit knapp, dann ist deren verstärkte Ba-tionierung und Aufteilung das Gebot der Stunde. Gespenstische Forderungen aus dem ohnehin recht düsteren österreichischen Herbst 1995 geistern durch die Vorwahlzeit: Wer als Pensionist arbeitet, soll künftig (wieder) durch „Buhensbestimmungen” bestraft werden. Dem Werkvertrag wird durch eine Quellensteuer der Kampf angesagt. Überstundenabbau und ein „gnadenloser” Kampf gegen Pfusch und der Schwarzarbeit stehen auf dem Programm. Auch das Motto „Frühpensionen sichern Arbeitsplätze” findet verhaltene Unterstützung. Kurz: Ein Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm, das gleichzeitig ein erstklassiges Arbeitsverhinderungspro-gramm ist. Es fehlen nur noch Maßnahmen gegen die höchstpersönliche

Erziehung von Kindern durch die Eltern, gehen dadurch doch Arbeitsplätze bei Erziehern, Kindergärtnern und in der Autobranche verloren. Unausweichlich erzeugt eine Politik der knappen, bis ins letzte Detail kollektiv verwalteten, auf einem ansehnlichen Niveau der Gesamtkosten kartellierten Arbeit einen mächtigen Ba-tionalisierungsdruck. Die Entfaltung von Identifikationen mit der Arbeit hat in einem System rigider Zeitökonomie, einem System von Nutzungsverboten der Arbeit keinen Platz.

Das Arbeitsrecht fügt sich in dieses Bild ein: Es gibt kein Recht auf Beschäftigung, keine Fürsorgepflicht, die sich auch auf die Arbeitsinhalte erstreckt, keine- Arbeitnehmerrechte auf Bildung, Information, Mitwirkung oder gar einen Anteil am Arbeitsergebnis. Vermögensbildung, Mitarbeitermodelle, Selbstverwaltung, die Brücken zu einem anderen Verständnis von Arbeiten und Wirtschaften, sind kein Thema. Nichts, was inhaltliche Identifikationen mit der Arbeit befördern könnte und damit das Paradigma der Verwaltung von abgegrenzten Tauschbeziehungen sprengen könnte.

Warum ließen sich die Arbeitnehmer die faszinierenden Möglichkeiten der Nutzung der unermeßlichen Potentiale ihrer Arbeit abkaufen? Weil jahrzehntelang ein sehr bescheidener, pragmatischer Ansatz unbestreitbare Erfolge feierte. Seine Eckpfeiler:

1. Arbeit verschafft das Geld, das man zum Leben braucht.

2. Arbeitsplätze sind für alle zugänglich, die arbeiten wollen.

3. Aus den Bruttokosten der Arbeit wird ein universelles System der sozialen Sicherheit finanziert.

4. Arbeit vermittelt daher Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und deren steigenden Zuwachs.

Dieses Modell bricht heute an allen Ecken und Enden auseinander. Die genannten Verheißungen der Arbeitnehmergesellschaft werden nicht mehr eingelöst. Die Gefahr ist, daß man darauf mit noch mehr Kartellierung, Anheizung der Wachstumsmaschine und Ausgrenzungen antwortet. Dabei würden die Lösungen in einer neuen Sichtweise der Arbeit liegen, und zwar nicht nur der Erwerbsarbeit. Warum?

■ Ein wachsender Teil von Arbeitnehmern erzielt kein ausreichendes Einkommen. 90 Prozent ihres Lebens verbringen die Menschen außerhalb des Erwerbsarbeitssektors. Ist es sinnvoll, daß zehn Prozent der Lebenszeit über den Gesamtstatus eines Menschen in der Gesellschaft entscheiden?

■ Die Unternehmen können in der globalisierten Wettbewerbslandschaft nicht bestehen, wenn Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen einem so strengen Regelwerk unterworfen sind und wenn es keine Anreize gibt, sich aktiv mit den Problemen des Unternehmens auseinanderzusetzen.

■ Auch das kollektive Aushandeln der Austauschbedingungen entfremdeter Arbeit wankt in den Grundfesten. An den raffinierten, schillernden, mit vielfältigen Optionen spielenden Unternehmensstrategien prallen die sehr allgemeinen gesetzlichen und kollek-tiwertraglichen Festlegungen der Rechte der Arbeitnehmer zunehmend ab.

■ Völlig blockiert und vom Umfeld her ausgehungert sind die Potentiale der Arbeit im Sektor der Nichter -werbsarbeit, die in Osterreich wertmäßig mit mindestens einer Billion Schilling zu veranschlagen wäre. Diese Arbeit wird gratis, unter miesen Bedingungen, bar jeder unterstützenden Infrastruktur verrichtet. Anreize gibt es, außer einem immer noch vorhandenen Ethos der Zuwendung, keine. Wer sich hier engagiert, wird sozialrechtlich gestraft. Kein Wunder, daß sich die zwischenmenschliche Gratisarbeit verflüchtigt. Entfremdete Arbeit übernimmt die Betreuung der Kinder, der Alten, die alltagskulturelle Unterhaltung. ■ Auch in der Freizeitsphäre wird die für befriedigende Erlebnisse notwendige produktive Gestaltung von Lebenszusammenhängen und Lebensqualitäten ausgedünnt. Freizeit wird konsumiert statt produziert. Nach dem „Thrill” ist einem fad, aber immerhin schafft das Springen von einem vorgefertigten Erlebnis-Package zum anderen ja Arbeitsplätze. In einer entfremdeten Arbeitnehmergesellschaft, die der Logik der Be-schäftigungsmaximierung folgt, macht es Sinn, wenn Freizeit vermarktet wird. Das Entgelt verkommt zum fetischhaften Gradmesser für die Zahl der Konsumationsakte. Die Entgeltentwertung durch die Inflation wird gemessen, die schleichende Entgeltentwertung, die durch das Verschwinden einer integralen, in Sinnzusammenhänge und Kultur eingebetteten Lebensqualität verursacht wird, hat noch niemand thematisiert.

In dieser Konfiguration machen hochgradig perverse Fragen durchaus Sinn: Wo kämen wir hin, wenn die Menschen in der Freizeit etwa „machen” statt etwas kaufen würden? Wieviel Arbeitsplätze würde es kosten, wenn Dienstleistungen in zwischenmenschliche „Arbeits” -Beziehungen umgewandelt würden? Wieviele Arbeitsplätze kostet es, wenn es nicht zur Verdreifachung der Zahl der Autos weltweit kommt?

Es ist Zeit, die unterdrückten Codierungen der Arbeit wieder aufleben zu lassen, also Zeit, erstens für die Zusammenführung von Arbeiten und Produzieren, und damit eine Reflexion über den Sinn der Arbeitsprodukte, zweitens für die Anerkennung, Unterstützung und finanzielle Abgeltung der Nicht-Erwerbsarbeit, und drittens für die Ersetzung eines Teiles des Freizeit-Konsums durch eine Sicht der Freizeit als produktive Betätigung, als eine Art (Lebens-) Kunst, mithin als Arbeit. Die Beani-mation nichtentfremdeten Arbeitens wird damit auch zu einem Schlüssel für die Neuordnung des Sozialstaats, die Ökologisierung und nicht zuletzt für eine intelligente Steigerung der Produktivität.

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