6738369-1966_31_04.jpg
Digital In Arbeit

Hauptfunktion: politische Willensbildung

Werbung
Werbung
Werbung

Gliedert man die Aufgaben des Nationalrats nicht nach juristischen, sondern nach funktionellen Gesichtspunkten, dann kann man sie wie folgt zusammenfassen:

1. Die formelle Funktion des Staatsnotars: eine generelle Norm wird nur dann zum Gesetz, wenn sie (unter anderem) vom Nationalrat in der von der Verfassung vorgesehenen Weise zum Beschluß erhoben wird.

2. Die (wahrscheinlich wichtigste) Funktion der politischen Willensbildung und des sachlichen Interessenausgleichs.

3. Die Kontrollfunktian und

4. Die Funktion der politischen Tribüne und öffentlichen Diskussion.

Untersuchen wir nun in gebotener Kürze, wag sich, bpi Erfüllung djeser Funktionen in der 1 neuen Situa tibii gegenüber der Koalitionszeit ge- änderfRaif11 - “ov S"

Ad 1.: Diese Funktion ist völlig unverändert geblieben.

Ad 2.: Ich wage die (beweisbare) Behauptung, daß sich der Einfluß des Nationalrats auf die politische Willensbildung de facto nicht vergrößert hat: nach wie vor werden die Vorlagen der Regierung — so wie in den schönsten Zeiten der Koalition — vom Nationalrat praktisch unverändert verabschiedet: Die Entscheidung über Umfang und Inhalt der Gesetzgebung fällt außerhalb des Nationalrats. Den Unterschied zu früher möchte ich wie folgt definieren: Früher wurden von ÖVP und SPÖ allfällige Abänderungsanträge der FPÖ mit 156 zu acht Stimmen abgelehnt; heute werden von der ÖVP die Abänderungsanträge von SPÖ und FPÖ mit 84 zu 80 Stimmen abgelehnt. Ob dieser — zweifellos relevante — Unterschied begrüßenswert ist, wage ich sehr zu bezweifeln. So paradox es klingen mag: ein freies Spiel der Kräfte, eine echte politische Willensbildung unter Ausgleich verschiedener Interessen kommt im Nationalrat nicht zustande, weil die ÖVP

zu stark ist um von den Oppositionsparteien zur Diskussion gezwungen werden zu können, gleichzeitig aber zu schwach ist, um sich freiwillig einer Diskussion zu stellen, bei der ein in der Regierung unter Wahrung des hündischen Proporzes zustandegekommener Beschluß abgeändert werden könnte.

Generalsekretär Dr. Withalm hat es am Schluß der Frühjahrssession im ÖVP-Klub unter Anspielung auf die knappe Mehrheit der Volkspartei hs8s Erfolg’ bezeichnet, ‘ daß es ge- ‘alfe Regle&n§ihittlia|eh „durchzubringen“; ich möchte ergänzen: „unverändert durchzubringen“3. Ich will nicht leugnen: Wenn man wirklich die Aufwertung des Parlaments anstrebt, dann muß sie jedenfalls an diesem, Punkt einsetzen.

Partei geht vor Nationalrat

Ad 3.: Das gleiche gilt für die Kontrollfunktionen des Natiönal- rates. Geben wir Uns doch keiner Täuschung hin: Nach wie vor kontrolliert nicht der Nationalrat die Regierung, sondern eine Partei die andere. In der Koalition stand dementsprechend eine Hälfte von Natiö- nalrat und Regierung der anderen Hälfte von Nationalrat und Regierung gegenüber. Heute stehen die Abgeordneten der Opposition (in manchen Fällen verstärkt durch die öffentliche Meinung) den Abgeordneten der ÖVP plus der Regierung gegenüber. Und da die Abgeordneten der ÖVP über eine absolute Mehrheit verfügen und sich in erster Linie der ÖVP zugehörig und erst in zweiter Linie dem Nationalrat zugehörig fühlen, sind die parlamentarischen Kontrollfunktionen praktisch ohne Sanktionen. Ich stehe nicht an, an dieser Stelle zuzugeben, daß es sich bei vertauschten Rollen so ähnlich verhalten würde.

Ad 4.: Erfreulicherweise hat die vierte Aufgabe des Nationalrats, nämlich die Funktion der politischen Tribüne, tatsächlich an Bedeutung zugenommen, was auch in der verstärkten Berichterstattung der Massenmedien seinen Niederschlag findet. Dies ist allerdings rin Grund mehr, das Verhalten der Regierungspartei zu kritisieren, die zu dieser Art der Aufwertung wenig beigetragen hat, sondern im Gegenteil gründliche Diskussion mit Obstruk tion verwechselt, sich an ersten Lesungen, also an Grundsatzdebatten unter schlechten Vorwänden nicht beteiligt und Abänderungsanträge in der Regel kommentarlos niederstimmt.

Vor allem aiber wird das vermehrte öffentliche Interesse am Nationalrat wieder zurückgehen, wenn nicht bei den unter Punkt 2 und 3 aufgezählten Funktionen des Nationalrats ein Wandel zum Besseren ein- tritt, indem entweder die ÖVP- Mehrheit ihre „Regierungshörigkeit“ abzubauen beginnt, oder die. Wähler die Konstellation im Nationalrat neuerlich verändern und dadurch echte Verhandlungen — im Parlament! — erzwingen.

Alles in allem waren die vergangenen 100 Tage eine lehrreiche Parla mentssession, in der die Regierung bemüht war, nicht nur allein zu regieren, sondern auch bequem und möglichst ungestört allein zu regieren. Gerade das ist aber in einer parlamentarischen Demokratie mit einer starken Opposition weder nützlich noch möglich!

Die Präsidialsitzung ist ein in der Geschäftsordnung vorgesehenes Gremium zur Lenkung und Koordinierung des parlamentarischen Getriebes, bestehend aus den drei Parlamentspräsidenten, den drei Klubobmännern und dem Parlamentsdirektor.

1 Die Gesamtzahl der Redner in erster, zweiter und dritter Lesung zum österreichischen Budget 1966 betrug heuer 191; die Gesamtzahl der Redner zum Haushaltsplan 1966 der Bundesrepublik Deutschland betrug 172.

Ausnahmen zu dieser Regel waren die Hochschulgesetze und die Wehrgesetznovelle, die echt verhandelt und einstimmig verabschiedet wurden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung