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Demokratie ist Diskussion

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Um dies deutlicher auszudrücken und gleichzeitig den Beweis dafür nicht schuldig zu bleiben, daß die sozialistischen . Abgeordneten von diesen Möglichkeiten wirklich nur sparsamen und sinnvollen Gebrauch machten, sei folgendes angeführt:

Ad 1.: In der Frühjahrssession 1966 wurden insgesamt 90 Regierungsvorlagen verabschiedet (darunter 65 Gesetze und 25 Verträge bzw. Berichte); dazu stellten die Sozialisten rund 200 Redner mit einer durchschnittlichen Redezeit von 22 Minuten, also etwas mehr als zwei Redner pro Vorlage; der Durchschnitt sinkt sogar faist auf einen sozialistischen Redner pro Vorlage, wenn man bedenkt, daß 96 der 200 sozialistischen Redner zu den insgesamt 30 Kapiteln des Bundesfinanzgesetzes sprachen, die in zwei Wochen durchberaten wurden; auf den ersten Blick mag dies als hohe Rednerzahl erscheinen, doch bewegt sie sich durchaus in gleicher Höhe wie die Zahl der Redner bei Beratungen des Staatshaushaltes in anderen Parlamenten2.

Wir haben es uns in der Vergangenheit nur abgewöhnt, im Parlament zu diskutieren, da ohnehin vieles abgesprochen und vereinbart war; und jetzt ist die ÖVP überrascht und beleidigt, daß sich zumindest die sozialistische Opposition darauf besinnt, daß Parlamentarismus unter anderem Diskussion bedeutet.

Redeverbot bei der ÖVP

Ad 2.: Die sozialistischen Initiativanträge bzw. deren Zahl und Berechtigung waren einer der Hauptstreitpunkte der Frühjahrssession. Lassen wir auch hier Zahlen sprechen:

Die ÖVP-Ragierung hat dem Nationalrat rund 100 Vorlagen zugeleitet; von diesen wurden 90 verabschiedet, und zwar 74 mit den Stimmen der Sozialisten und 16 gegen die Stimmen der Sozialisten.

Dagegen hat die sozialistische Opposition nur 20 Initiativanträge eingebracht, von denen nicht nur keiner beschlossen wurde, sondern auch kein einziger — mit Ausnahme des Rundfunkantrages — in Verhandlung gezogen wurde; bei den ersten Lesungen der meisten sozialistischen Initiativanträge erhielten die ÖVP-Abgeordneten sogar ein von Dr. Withalm in aller Form verkündetes Redeverbot.

Formell wurde dies damit begrün det, daß die sozialistischen Initiativanträge zur Sozialpolitik keine ausr reichenden Vorschläge zur Bedek- kung enthalten und daher da§ laufende Budget aus dem Gleichgewicht bringen würden. Jeder Abgeordnete im Hohen Haus weiß aber, daß diese Begründung in mehrfacher Hinsicht nicht stichhältig ist:

• Viele der sozialistischen Anträge, wie zum Beispiel das Gesetz über den Kündigungsschutz, über eine verfassungsrechtliche Verankerung der Verstaatlichung oder über eine Änderung der Urlaubsvorschriften haben überhaupt keine Auswirkungen auf das Budget;

• sämtliche Anträge würden im Falle ihrer Realisierung frühestens im Jahre 1967, manche erst 1970 in Kraft treten, so daß das laufende Budget auf jeden Fall unbeeinflußt bleibt;

• die ÖVP hat selbst Anträge eingebracht und verabschiedet, die sehr wohl eine finanzielle Mehrbelastung des laufenden Budgets mit sich brachten (zum Beispiel Erhöhung der

Gewerbesteuerfreigrenzen) und dennoch keinen Bedeckungsvorschlag enthielten;

• vor allem aber besteht ein großer Unterschied, ob man sich weigert, den Anträgen zuzustimmen und sie als Gesetz zu beschließen, oder ob man sich a limine weigert, an der den Ausschußberatungen vorangehenden ersten Lesung, also der — wie die Geschäftsordnung sagt — „Besprechung der allgemeinen Grundsätze der Vorlage“, teilzunehmen.

Genau dieser Diskussion, nämlich der Diskussion, wie man sich grundsätzlich zum Inhalt dieser Anträge stellt und welchen Platz man ihnen in der Rangordnung der legistischen Vorhaben für die laufende Legislaturperiode einräumen will, wollte die ÖVP ausweichen. Um kein Mißverständnis entstehen zu lassen: Es ist formell das Recht der Mehrheitspartei, sich an ersten Lesungen oppositioneller Initiativanträge nicht zu beteiligen und diese auch nicht in Verhandlung zu ziehen. Aber ebenso unbestritten muß das Recht der Opposition sein, dieses Verhalten der Regierungspartei anzuprangern und zu kritisieren, daß die ÖVP-Mehrheit die Kapitalmarktgesetze, eine Gewerbesteuerermäßigung und ähnliches im Eilzugstempo beschlossen hat, über die Anträge auf Erhöhung der Witwenpension, auf Dynamisierung der Kriegsopferrenten oder auf Erhöhung der Kinderbeihilfen aber nicht bereit war, zu diskutieren, obwohl sämtliche dieser Forderungen

— das sei nur nebenbei erwähnt — sowohl vor als auch nach den Wahlen vom ÖAAB mitunterstützt wurden. Es ist offensichtlich das Dilemma der Volkspartei in der neuen Konstellation, daß sich der ÖAAB in den letzten Jahren zu weit vorgewagt hat und jetzt — da man die in Opposition befindlichen Sozialisten denn doch nicht von links überholen kann — sich unter Krämpfen und vielen Ausreden wieder zurückziehen muß. . ;

Was die • sozialistischen Abänderungsvorschläge zu den Vorlagen der Regierung betrifft, die ebenfalls fast ausnahmslos nicht diskutiert und abgelehnt wurden, würde es der Regierung sehr schwer fallen, vor einem objektiven Gremium nachzuweisen, daß sämtliche der abgelehnten Vorschläge unbrauchbar waren; so zum Beispiel:

Die Vorschläge Dr. Kreiskys zum Kompetenzgesetz; die Vorschläge auf Herausnahme der Heizölbenützer von der Erhöhung der Mineralölsteuer oder die Vorschläge für ein Investitionsförderungsgesetz im Rahmen der Kapitalgesetze und viele andere.

Es gehört — wie schon erwähnt

— zu den Rechten der Mehrheit, auch brauchbare Vorschläge abzulehnen; sie muß nur dann die Verantwortung dafür tragen und die Kritik an ihrem Verhalten hinnehmen.

Ad 3.: Hier genügt die kurze Feststellung, daß die sozialistische Oppo sition in den drei Monaten beziehungsweise 24 Sitzungen der Frühjahrssession nach der Geschäftsordnung die Möglichkeit gehabt hätte, 888 mündliche Anfragen,

168 dringliche Anfragen und unbeschränkt viele schriftliche Anfragen einzubringen.

Demgegenüber wurden eingebracht:

99 mündliche Anfragen (ÖVP: 70, FPÖ: 61), vier dringliche Anfragen (ÖVP: 0, FPÖ: 0),

51 schriftliche Anfragen (ÖVP: 15, FPÖ: 31).

Hätte sich die SPÖ hier noch mehr Zurückhaltung auferlegt — sie hätte sich vorwerfen lassen müssen, ihrer Rolle als Opposition nicht gerecht geworden zu sein.

Ad 4.: Daß bei einem halben Dutzend wichtiger Materien namentliche Abstimmungen beantragt wurden (zum Beispiel bei der Habsburg- Entschließung, beim Budget, bei der Ablehnung der sozialistischen Lohnsteueranträge usw.), um die Stimm-

abgabe der Abgeordneten für das Protokoll festzuhalten, ist wohl derart selbstverständlich, daß man nicht näher darauf eingehen muß.

Aufwertung?

Am Schluß dieser Überlegungen soll noch die für die Bilanz der ersten hundert Tage wahrscheinlich wichtigste Frage gestellt werden, ob der Nationalrat durch die neue Konstellation tatsächlich „aufgewertet“ wurde. Ich möchte diese Frage nicht so leichtfertig und unkritisch bejahen wie mein Diskussionspartner in der vorigen Nummer der „Furche“ ; dies um so weniger, als eine rasche Ernüchterung folgen könnte, sobald der Reiz des Neuen und Ungewohnten der derzeitigen Situation vorbei ist und im parlamentarischen Alltag echte Aufwertung von schönen Redensarten deutlich unterschieden werden kann.

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