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Parteien- oder Volksvertreter?

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Am 19. Dezember 1955 jährte sich zum zehnten Male der Tag, an dem nach Wiederherstellung eines freien Oesterreich der neugewählte Nationalrat im historischen Parlamentsgebäude auf der Wiener Ringstraße zusammentrat. Als sich dieses Ereignis vollzog, war unser Land noch in vier Besatzungszonen geteilt, mußten beim Ueberschreiten der Demarkationslinien besondere Ausweise vorgezeigt werden, lebte man von kärglichen Nahrungsmitteln, die auf Grund der Lebensmittelkarten zugeteilt wurden, usw. Allein die Erinnerung an diese Zustände und ein Vergleich mit der heutigen Situation unseres Staatswesens beweist, daß Oesterreichs Politiker eine gute und für das ganze Volk ersprießliche Arbeit geleistet haben. Und Oesterreichs Parlamentarier dürfen sich ohne | Ueberheblichkeit rühmen, wenigstens den größten Teil dessen verwirklicht zu haben, was der erste Präsident des ersten Nationalrates nach 1945, der inzwischen verstorbene Abgeordnete Leopold Kunschak, in der denkwürdigen Sitzung vom 19. Dezember 1945 als Aufgabe der neuen Volksvertretung folgendermaßen bezeichnete:

Uns geziemt es, fest und unbeirrt unseren Blick in die Zukunft zu lenken. Jetzt sieht unser Blick das zerstörte Vaterland, das zerstörte Wirtschaftsleben, das zerstörte Kulturleben, die gesellschaftlichen Grundsätze verwahrlost und unser Ziel auch noch verrammelt durch alle erdenklichen Hindernisse. Und dennoch: der Weg zu diesem Ziel, so steinig und so dornig er sein mag, der Weg zu diesem Ziel, das uns ein freies Volk, ein arbeitsames und durch seine Arbeit in seiner Arbeit glückliches Volk zeigt, unverwandten Blickes auf dieses Ziel, kein Hindernis scheuend, das ist der einzige Gedanke, der uns in dieser feierlichen Stunde beseelen soll.“

Sosehr die erfolgreiche Tätigkeit von Regierung und Volksvertretung in fast allen Kreisen des österreichischen Volkes Anerkennung findet, geht die öffentliche Meinung mit diesen Feststellungen und den üblichen Glückwünschen zum Jubiläum doch nicht einfach zur Tagesordnung über. Fast alle von Parteieinflüssen halbwegs freien Presseorgane haben an die Nachricht von der Beendigung eines Jahrzehnts parlamentarischer Tätigkeit und an die Würdigung der unzweifelhaften Verdienste der Volksvertretung kritische Betrachtungen geknüpft. Es wird mit Unbehagen vermerkt, daß in Oesterreich das Parlament nicht jene zentrale Stellung einnimmt, die ihm im demokratischen Leben anderer Staaten seit jeher zugebilligt wird. Der Oesterreicher bevorzugt trotz seiner demokratischen Einstellung die Regierung gegenüber dem Parlament; die Rangordnung wird damit unlogisch und verkehrt: denn die gesetzesvollziehende Gewalt wird höher eingeschätzt als die Gesetzgebung, obwohl doch die Vollziehung der Gesetze nur auf der Arbeit der Legislative basieren kann.

Diese Erscheinung, die manche Widersprüche in unseren staatlichen Organismus hineinträgt und zu einem gewissen Unbehagen gegenüber der jetzigen Art und Weise parlamentarischer Arbeit führt, reicht mit ihren Wurzeln allerdings weit über das letzte Jahrzehnt parlamentarischer Tätigkeit hinaus. Die Entwicklung des österreichischen Parlamentarismus verlief fast von Anbeginn anders als in den meisten westeuropäischen Demokratien. Zwar hat auch in Oesterreich die Revolution des Jahres 1848 die ersten parlamentarischen Institutionen geschaffen. Aber dieser Revolution lagen nicht nur demokratische Bestrebungen, sondern auch nationale und soziale Ursachen zugrunde. Das nationale Programm der Revolution hat sich nie durchgesetzt, was mit zum Untergang der Monarchie beigetragen hat. Die sozialen Reformbestrebungen haben zwar nicht im Jahre 1848 zum Ziel geführt, aber doch immerhin bewirkt, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Ausmaß staatlicher sozialer Fürsorge erreicht wurde, das die damalige Monarchie an die Spitze aller europäischen Staaten in dieser Hinsicht stellte. Die demokratischen Bestrebungen schließlich haben sich zunächst nur sehr verschwommen und nacli vielen Rückschlägen durchsetzen können. Ir der österreichisch-ungarischen Monarchie wai die Treue gegenüber dem Kaiser und seinen Kabinett eines der bestimmenden Momente patriotischer Haltung; die überwiegende Mehr' heit der staatstreuen Volksschichten hielt nichi allzuviel vom Parlament. Dadurch hat schor von Anbeginn das Ideal parlamentarische:

Demokratie “in unserer staatlichen Entwicklung nicht jene Bedeutung erlangt, die es beispielsweise in Großbritannien und Frankreich besitzt.

Nach 1918 hat sich die Autorität des Monarchen größtenteils auf die republikanische Regierung übertragen. Schien es in der Monarchie unmöglich und geradezu hochverräterisch, ein Feind des Monarchen zu sein, so wurde nun mehr oder minder bewußt die Ansicht verbreitet, daß ein loyaler Staatsbürger eigentlich getreu hinter der jeweiligen Regierung stehen müsse. Aus dieser besonderen Hochachtung gegenüber der Regierungsgewalt ergibt sich folgerichtig das Fehlen einer gesunden Einstellung zum Problem der parlamentarischen Opposition. Allzu gerne wird Opposition — das heißt also Gegnerschaft zur herrschenden Regierung — geradezu mit Treulosigkeit gegenüber dem Staat gleichgesetzt. Das gesunde Zweiparteiensystem, bei dem eine Partei regiert und die andere kontrolliert und die Rollen nach einiger Zeit auch vertauscht werden können, hat bisher in Oesterreich eigentlich nie existiert. Nicht nur nach 1945 nicht, da die beiden großen Parteien sich zur Koalition zusammengeschlossen haben, sondern eigentlich schon voi 1934 nicht: Denn die .Haltung der Sozialdemokraten im Nationalrat vor 1934 war weniger eine Opposition im echten Sinne; in erster Linie ging es dieser Partei vielmehr darum, zu beweisen, daß s i e allein einen legitimen Anspruch auf die Ausübung der Regierungsgewall habe. Und auch die gegenwärtige Opposition die sogenannte Wahlpartei der Unabhängigen, nimmt kaum die Haltung einer Minorität ein welche die Kontrolle über die Verwaltung und gewissermaßen auch über die Mehrheit — die die Macht in den Händen hat — ausübt, um einen Mißbrauch dieser Macht zu verhindern.

Dabei ist gerade die offizielle Opposition, wi sie zum Beispiel in Großbritannien geübt wird eine der sichersten Vertrauensgrundlagen, aul denen die Demokratie beruht. In jedem Volk -beim österreichischen vielleicht am meisten — gibt es kritische Ansichten über die Regierungspolitik, die in der Volksvertretung zum Ausdruck kommen müssen. Der so oft zitierte „kleine Mann“ will in seiner Sprache seine Sorgen und Nöte durch die gewählten Mandatare behandelt wissen, er will seine Kritik an der Regierung auch durch die Abgeordneten hören. Nur dann ist er bereit, die Institution

des Parlaments als Volksvertretung im wahren Sinne anzuerkennen.

Damit soll natürlich nicht einer Schwächung der Regierungsgewalt an sich das Wort geredet werden. Auch in einer Demokratie muß et Autorität auf der einen und Disziplin und Unterordnung auf der anderen Seite geben. Es ist ein alter Grundsatz, daß in der Beratung die Vielfalt der Meinungen, in der Durchführung aber die Einigkeit herrschen soll. Darum kann es eine loyale Opposition eben wirklich nur in den beratenden Körperschaften, nicht aber gegenüber der vollziehenden Gewalt geben. Es ist jedoch kein Zweifel, daß diese Funktion einer offiziellen Opposition im vergangenen Jahrzehnt parlamentarischer Tätigkeit in Oesterreich gefehlt hat. Es ist auch verständlich, daß eine solche Opposition bei den gegenwärtigen Verhältnissen unseres Staates nur schwer zur Geltung kommen kann. Die Koalition der beiden großen Parteien unseres Landes ist eine Staatsnotwendigkeit. Man muß sie aufrechterhalten, solange unser Staatswesen .nicht aus den Gefahrenzonen der Weltpolitik hinausgerückt ist. Aber es wäre doch zu überlegen, ob nicht selbst ,bei den gegenwärtigen Verhältnissen den Abgeordneten — auch den der Regierungsparteien — ein weiterer Spielraum eingeräumt werden könnte, um sich gegenüber der Regierung besser behaupten zu können.

Es gibt auf der ganzen Welt kaum eine Krise des demokratischen und parlamentarischen Prinzips; aber es gibt doch sehr große Schwie-

rigkeiten der parlamentarischen Technik und ier gesetzgeberischen Arbeit. Nicht zuletzt handelt es sich hier auch um das Problem einer Auslese, die durch die Parteien geübt wird. Gerade bei uns in Oesterreich neigen die politischen Parteien dazu, die Elite der Abgeordneten und maßgeblichen Parteiführer in die Regierung zu entsenden. Damit bleibt das Parlament mehr und mehr ohne starke politische Persönlichkei-t e n und muß geradezu zwangsläufig unter den Einfluß der Regierung kommen. Das ist aber eine Tendenz, die die Kluft zwischen den politischen Führern und den Geführten immer mehr vertieft. Dieser Spalt wird um so schmerzlicher empfunden, je mehr das politische Interesse der Oeffentlichkeit zunimmt. Dabei kann aber das demokratische Ideal gar nicht realisiert werden, solange das Volk nicht hinreichend gebildet ist, um die Grundprobleme der Politik zu verstehen und ernstlich verlangen zu können, was richtig und gerecht ist.

Dieses Ringen um die gerechten Lösungen der staatlichen Probleme ist Aufgabe eines demokratischen Parlaments. In einem solchen ist der Abgeordnete vor allem ein Volksvertreter und nicht nur ein Parteivertreter. Denn sein Mandat erwächst wahrscheinlich zum größten Teil aus Stimmen, die von Leuten abgegeben werden, die parteipolitisch nicht gebunden sind. Die Etablierung der Partei als staatstragende Organisation ist heute eine der größten Gefahren der Demokratie. An sich hat die Partei nur die Aufgabe, die Gruppierung der Staatsbürger für die Wahl der Volksvertretung zu ermöglichen. Diese Volksvertretung, das Parlament, aber ist nicht ein zufälliges Forum, innerhalb dessen die Parteien ihre politischen Gegensätze auszutragen haben; sondern das Parlament hat eine ganz bestimmte Funktion innerhalb' des Staates: nämlich die Vertretung des souveränen Volkes zu sein und die Gesetze zu beschließen, nach denen allein der Staat verwaltet werden darf und nach denen Recht gesprochen werden soll.

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