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Segen und Sorgen einer Stadt

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„Student sein in Graz, wenn der Flieder blüht...“, sang man zu einer Zeit, als Graz noch die Stadt der Pensionisten und Studenten war. Heute haben die beiden Grazer Hochschulen, Universität und Technik, die Männer, wie Heß, Pregel, Wagner-Jauregg, Löwy, Beltz-mann, Emich, Schrödinger, Wittenbauer als Lehrer oder Schüler sahen, mehr Hörer als in jener romantischen Vergangenheit. Im Wintersemester 1959/60 waren etwa 7000 Hörer an den beiden Grazer Hochschulen inskribiert. Daß hiervon nahezu die Hälfte (auf der Technischen Hochschule wesentlich mehr) aus dem Ausland kamen, spricht für den gediegenen internationalen Ruf dieser Bildungsstätten und für die große, allerdings kaum in Zahlen nachweisbare kulturelle Ausstrahlung, vor allem nach dem Südosten. Dieser erfreuliche Zustrom ausländischer Hörer führt anderseits oft, gerade für die begabtesten inländischen Studierenden, zu erheblichen Schwierigkeiten. Man kann unter blühendem Rieder weder dauernd wissenschaftlich arbeiten noch wohnen. Der Bau von Studentenheimen, die allein ein billiges Wohnen sichern, ist eine dringende Notwendigkeit geworden. Dem ersten Heim, das vor kurzem seiner Bestimmung übergeben würde, sollen, unter Mithilfe der Stadt Graz, weitere folgen.

Ein anderes Problem, das Graz mit allen europäischen Großstädten gemeinsam hat, ist die Wohnungsnot. Obwohl seit dem Jahr 1945 21.053 Wohnungen neu- beziehungsweise wiederaufgebaut wurden, war es nicht möglich, den Wohnungsbedarf zu decken. Zeigt auch eine Fahrt durch die Außenbezirke der Stadt einen geradezu phantastischen Bauwillen aller, der öffentlichen Hand, der Genossenschaften und privater Bauherren, so gelingt es doch mir langsam, Barackensiedlungen zu sanieren, und die fieberhafte Bautätigkeit ist ein ständiger Wettlauf mit der ebenfalls konjunkturbedingten Bevölkerungszunahme. (1945: 196.426, 1960: 236.000.)

Die allgemeine Bautätigkeit ist um so beachtenswerter, als Graz, die zweitgrößte Stadt Österreichs, und südöstlichste Großstadt im deutschen Sprach- und Kulturraum, unter den Auswirkungen der beiden großen Kriege unseres Jahrhunderts mehr gelitten hat als andere Städte Österreichs. 1918 war es die Abtrennung der Untersteiermark und die Zerstörung der Handelsstraße zwischen dem mährisch-schlesischen Industriegebiet und dem Adria-hafen Triest, 1945 die wirtschaftliche und politische Absonderung Ungarns, Jugoslawiens und anderer Länder Südosteuropas.

Das Jahr 1945 brachte, neben einem bombcn-zerpflügten Haupt- und Güterbahnhof mit völlig vernichteten Eisenbahnverbindungen, eine gänzliche Zerstörung aller, im weiteren Stadtgebiet befindlichen Industrieanlagen. Heute ist der Grazer Hauptbahnhof, mit Bahnhofpostamt und Zollabfertigung, Hotel und Bahnhofplatz, eine der Größe der Stadt entsprechende repräsentative Eingangstür. Der Bjhnhofplatz wird nach seinem vollständigen Ausbau zu den schönsten und größten Plätzen Österreichs zählen.

Namen wie Steyr-Daimler-Puch, Simmering-Graz-Pauker, Waagner-Biro, Andritzer Maschinenfabrik, Papierfabrik Arland und andere, haben den Namen unserer Stadt und ihrer Arbeit in alle Kontinente getragen. Bald nach dem Ende des zweiten Weltkrieges konnte die Grazer Südostmesse wieder ins Leben gerufen werden. Die Grazer Südostmesse, die auf einem Gelände von 120.000 Quadratmeter in 22 Hallen zirka 1200 Ausstellern Platz bietet und in den letzten Jahren durchschnittlich 200.000 Besucher aus 20 Nationen empfing, zeigte im heurigen Frühjahr erstmals einen „Eisenkern“, eine zentrale Halle der steirischen Schwerindustrie.

Der Exportausweitung dienen auch Bestrebungen der Stadt Graz, die Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Gewerbe- und Industriebetriebe zu schaffen Bei einer weiteren konsequenten Ausführung dieser Absicht wird neben der Verbesserung der finanziellen Lage der Stadt ein auch nicht unbedeutender Beitrag zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung geleistet werden.

Wer heute an einer der Hauptverkehrsadern von Graz steht, wird Zeuge eines Großstadtverkehrs mit oft beängstigender Dichte. Der notwendige Ausbau des Straßennetzes stellt ein schwieriges Problem dar. Durch die Eingemeindung von 23 Katastralgemeinden im fahre 193 8 hat sich die Grundfläche der Stadt Graz versechsfacht, die Länge der öffentlichen Straßen beträgt 760 Kilometer; bei einer Einwohnerzahl von 236.000 bedeutet dies, daß aus Steuermitteln pro Einwohner zweieinhalbmal soviel Straßen zu erhalten sind, als etwa in der Bundeshauptstadt Wien. Die stürmische Entwicklung des Verkehrswesens zwingt dazu, immer mehr Mittel für den Ausbau des Straßennetzes einzusetzen. So wurden seit 1945 in Graz 113 Kilometer Straßen mit einem Kostenaufwand von rund 40 Millionen Schilline neuzeit-; lieh ausgebaut. Ein Generalverkehrsplan ist im Entstehen begriffen, der moderne und leistungsfähige Umfahrungsstraßen und eine Verbesserung der bestehenden Straßen vorsieht.

Die an sich erfreuliche räumliche und wirtschaftliche Expansion zwingt auch die Grazer Stadtwerke-AG. — Graz hat sich als erste österreichische Stadt zu dieser elastischeren Organisationsform seiner Versorgungs- und Verkehrsbetriebe entschlossen — zum ständigen Ausbau ihrer Versorgungslinien. Entstehende und aufblühende Gewerbebetriebe brauchen mehr Strom, mehr Gas, mehr Wasser. Im Süden von Graz wurde ein neues ferngesteuertes Wasserwerk errichtet, während das alte, längst zu schwach gewordene Wasserwerk Andritz seine veralteten Rohrbrunnen durch neuzeitliche Horizontalfilterbrunnen ersetzen wird. Für ein drittes, außerhalb der Stadt gelegenes Zentrum der Wassergewinnung konnten bereits Grundstücke erworben und die notwendigen Grundwasserschutzverfügungen von der Wasserrechtsbehörde erwirkt werden.

Das Grazer Gaswerk, das nach dem Krieg zu einer der modernsten Anlagen ausgebaut werden konnte, stellt ab Oktober dieses Jahres seinen Betrieb auf die Verwendung von Öl um. Eine nach dem gegenwärtigen Stand der Vergasungstechnik wirtschaftliche Ölspaltanlage, die auch die Verwendung von Erdgas für den Haushalt ermöglichen wird, wurde mit be-Öeutendem Kostenaufwand errichtet.

Die Verkehrsbetriebe endlich, die im ständigen Wettlauf mit der zunehmenden Verkehrsfrequenz stehen, haben nicht nur die im Krieg schwerbeschädigten Gleisanlagen fast vollständig erneuert, sie konnten auch neue Wagen und moderne Großraumomnibusse, die für die Einbeziehung neuer Siedlungsgebiete in das Straßennetz von Wichtigkeit waren, anschaffen.

Um dem notleidenden steirischen Kohlenbergbau zu helfen und um die städtische Bevölkerung mit wohlfeiler Wärmeenergie zu versorgen, plant die Grazer Stadtwerke-AG., gemeinsam mit der STEWEAG, ein Fernheizkraftwerk zu bauen. Die notwendigen Vorarbeiten sind beendet und Konstruktionsaufträge wurden bereits vergeben.

Bei der bedrängten Lage von Gewerbe und Industrie war es naheliegend, dem Fremdenverkehr ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Stadt und Land wetteifern in der Erhaltung und Ausgestaltung baulicher historischer Sehenswürdigkeiten. Neben einer Reihe schöner Kirchen- und Profanbauten sind es vor allem das Schloß Eggenberg, das Landhaus und das Zeughaus (größte Waffensammlung Europas), die ohne Überhebung dem Gast gezeigt werden können. Bewußt fortgesetzt und verstärkt wurde auch eine Tradition der Stadtverwaltung: Graz kann sich heute mit mehr Recht und Stolz denn je als „Gartenstadt“ bezeichnen. Wo immer sich öffentliche Grundflächen, Straßen und Plätze gärtnerisch ausgestalten ließen, wurden sie liebevoll in grüne und blühende Ruhepunkte der Großstadt verwandelt. Eine besondere Stellung nimmt hier der Stadtpark ein. Durch eine überaus glückliche Vereinigung von Natur und Kunst konnte er, gemeinsam mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem Schloßberg, zu einer einmaligen Sehenswürdigkeit gemacht werden. Die Freilichtbühne auf dem Schloßberg ist zu einem wesentlichen Bestandteil der Grazer Sommerspiele geworden.

Das zweitgrößte Opernhaus Österreichs mußte nach Bombentreffern restauriert werden und erhielt eine völlig neue, die alte Tradition bewußt erhaltende Innenausstattung. Der stark empfundene Mangel einer geeigneten Sprechbühne, die den kulturellen Anforderungen gewachsen ist, wird gegenwärtig durch den Wiederaufbau des alten Schauspielhauses beseitigt. Durch das „Künstlerhaus“ konnte den bildenden Künsten ein repräsentativer Ausstellungsraum geboten werden, während sich die junge Künstlergeneration ein Geisteszentrum im Herzen des Stadtparks, das „Forum“ errichtet. Es ist dies eine Akademie in klassischem Sinne, die allein aus der Initiative junger Künstler und Intellektueller entstanden ist.

Krieg und Bevölkerungszuwachs haben auch im Schulbau und in der Errichtung von Kindergärten empfindliche Lücken hinterlassen. Seit dem Jahr 1945 wurden auf Initiative meines Vorgängers, Bürgermeister Dr. Eduard Speck, der selbst ein hervorragender Schulfachmann ist, vier neue — die Anerkennung der in- und ausländischen Schulfachleute gewinnende — Schulen errichtet. Der Bund hat eine sehr schöne und zweckmäßige Mädchenmittelschule gebaut, und zur Zeit sind drei weitere Volks- und Hauptschulen und eine Mittelschule in Erstehung begriffen.

Das besondere Augenmerk der Stadtverwaltung galt seit jeher den Kindern. Achtzehn Kindergärten und zwölf Horte wurden entweder neu gebaut oder modernisiert. Weitere sind geplant.

Somit wird alles getan, um der zweitgrößten österreichischen Stadt den für unsere Heimat Österreich so charakteristischen Liebreiz zu geben und dabei doch eine neuzeitliche Stadt zu schaffen.

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