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Wie lange noch bloß „Meinungen“?

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Wenn wir uns heute mit Problemen unserer großstädtischen Umwelt beschäftigen, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir unser ureigenes Schicksal zum Thema haben. Konnten frühere Generationen als tatkräftig und weitblickend gelten, wenn sie ein Haus für ihre Kinder bauten, so wird beim beschleunigten Entwicklungstempo der Gegenwart jede Maßnahme, jede Fehlplanung im städtischen Lebensraum unmittelbar für uns selbst wirksam.

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Wenn wir uns heute mit Problemen unserer großstädtischen Umwelt beschäftigen, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir unser ureigenes Schicksal zum Thema haben. Konnten frühere Generationen als tatkräftig und weitblickend gelten, wenn sie ein Haus für ihre Kinder bauten, so wird beim beschleunigten Entwicklungstempo der Gegenwart jede Maßnahme, jede Fehlplanung im städtischen Lebensraum unmittelbar für uns selbst wirksam.

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Die Spielplätze und Grünflächen, die der Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen in der Kindheit zur Verfügung standen, wurden im Laufe von drei Jahrzehriten verbaut. Das relativ saubere Wasser der Donau wurde in einem Jahrzehnt vergiftet. Noch einige Müllverbrennungsanlagen vom Typ „Zwetschkenkern“ in Wien — die in drei Jahren gebaut sein könnten — und selbst in Grinzing und im „Cot-tage“ wird der Gestank bei Ostwind unerträglich sein...

Historische Vorgänge sind kein unabänderliches Fatum. Wir können dem technischen, ökonomischen und sozialen Wandel die Richtung weisen, Ziele setzen und jede Entwicklung zu einem gewissen Grad beeinflussen und gestalten.

Die Großstädte als wichtigster Ausschnitt des sozialräumlichen Kontinuums stellen uns zahlreiche Probleme. Aber diese sind im Prinzip erkennbar und können auch, Stück für Stück, einer Lösung zugeführt werden. Das vehement in Angriff zu nehmen, ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Aufgaben.

In Österreich wohnt derzeit rund die Hälfte der Menschen in Städten mit mehr als 5000 Einwohnern. In 30 Jahren wird die Hälfte allerdings in Großstadtregionen (Stadt plus Umland) wohnen. Mit allen Konsequenzen für Wirtschaft, Lebensstil und Gesundheit. Wiens Einwohnerzahl stagniert derzeit bei 1,6 Millionen. Es bleibt durchaus zu überlegen, ob ein weiteres Anwachsen wünschenswert ist, oder ob der fehlende Druck einer Uberbevölkerung als Chance für die innere Erneuerung der Stadt genützt werden soll — zumindest vorübergehend.

„Meinungen“ oder „Dogmen“

Um unsere Großstädte wieder wohnlich, behaglich, angenehm zu machen, wären riesige Anstrengungen zu unternehmen, um einerseits die alten Stadtviertel umzustrukturieren und dabei zu „revitalisieren“, anderseits Planung und Ausführung der Neubauviertel ganz wesentlich zu verbessern. Dazu bedarf es vor allem eines Gesamtkonzeptes, das, um es mit den Worten eines Klassikers, Ebenezer Howard, auszudrük-ken, die Spannung bewältigt, „größte persönliche Freiheit mit größtem Gemeinsinn“ zu verbinden!

Dazu müßten sich allerdings auch die Politiker, welche die Geschicke einer Stadt wie Wien leiten, auf eine große geistige Herausforderung einlassen und ihren Horizont ausweiten. Sie müßten etwa, um nur einige spektakuläre Beispiele zu nennen, den schon in den vierziger Jahren aufgestellten „Greater London Plan“ Abercrombies oder die Studien zur „Ringstadt“ Holland genauer studieren, um aus Vorzügen und Mängeln zu lernen. Vor allem aber müßten mehr Nutzanwendungen daraus gezogen werden.

Stadtentwicklung kann man nicht mehr auf Grund von bloßen Meinungen oder alten parteipolitischen Dogmen verantworten! Aus der Unbehagensliste seien nur einige Punkte herausgegriffen, um sie zu exemplifizieren:

• Warum bleiben viele Untersuchungen und wertvolle “Vorschläge unbeachtet?

Man muß wissen, daß, größtenteils im direkten Auftrag der Gemeinde Wien, seit Kriegsende hunderte Untersuchungen durchgeführt wurden, die in Schreibtischladen vermodern. Es gibt keine zentrale Übersicht der Ergebnisse mit einer Kontrolle, wie weit sie im Städtebau verwirklicht wurden. Schätzungen zufolge wurden in 20 Jahren weit mehr als 100 Millionen Schilling dafür ausgegeben, wahrscheinlich aber mehr. Allein im Jahr 1971 waren es rund 10 Millionen.

• Welche planerischen Vorsorgen trifft Wien für die Fremden aus nah und fern?

Diese Frage hat mehrere Ebenen: Wien will eine „internationale Stadt“ sein. (Der Slogan „Weltstadt“ geht leider daneben. In keiner der rezenten Publikationen über Weltstädte wird Wien auch nur erwähnt.) Dafür wurde etwa die UNO-City entworfen. Eine gute Idee. Aber es gibt keine Pläne darüber, wo tausende ausländische Beamte wohnen werden, wo sie ihre Freizeit bei Tennis oder Golf verbringen werden. Es ist unwahrscheinlich, daß sie aus dem UN-Gelände nicht auch herauswollen. Wo werden sie Kontaktstellen mit den Wienern finden?

Auf einem ganz anderen Niveau liegt der Einkaufsverkehr von Stadtfremden aus der weiteren Region. Auch darüber hat man sich keine Sorgen gemacht. Man will natürlich, daß auch Leute aus Zwettl, Enns oder Oberpullendorf herkommen, aber wo können die Autos mit N-, O- und B-Nummern nahe den Einkaufsstraßen oder wenigstens bei günstig gelegenen Endstellen öffentlicher Verkehrsmittel abgestellt werden?

• Mängel in der Stadtplanung selbst.

Bis Planungen zur Auswirkung kommen, dauert es oft sehr lange. Warum werden veraltete Pläne nicht rascher erneuert? So wird gegenwärtig im 19. Bezirk (Rudolf-Kassner-Gasse, Amalgergasse) nach Bebauungsplänen mit ihren Fluchtlinien durchgebrochen, die in ihren Grundzügen aus der Jahrhundertwende stammen, aus einer Zeit, in der es nur Pferdefuhrwerke gab und ganz andere Vorstellungen über den Städtebau. Es entstehen zu viele Kreuzungen. Die Einmündungen sind eng, so daß Autobusse nach Grinzing schwer ums Eck kommen. Als Verspätungseffekt werden 1972 Gründerzeitstrukturen gebaut. Die alten Fehler werden perpetuiert.

Allerdings wird auch an neuen Bebauungsplänen für ganze Bezirke gearbeitet. Freischaffende Architekten sind damit beauftragt. Für den Entwurf der neuen Pläne gibt es aber keinerlei Richtlinien! Das hat eine Ursache: Konzeptlosigkeit; und das hat Folgen: die Vorschläge einiger Architekten werden zurückgewiesen, doch nie wird man erfahren, warum.

Ein Sonderkapitel stellen die Umlandbeziehungen dar. Keine Großstadt lebt isoliert. In einer regionalen Planungsgemeinschaft müßte, so denkt man, Wien führend auftreten, mit den schwächeren Umlandbezirken als Partnern.

• Phantasielosigkeit in der Stadterneuerung.

Die Regierung des Bundeslandes Wien scheint der Meinung zu sein, daß nur sie allein oder von ihr abhängige Genossenschaften in der Lage seien, Altstadtgebiete zu erneuern. Es gibt jedoch genügend Beispiele, daß es bei flexiblerer Einstellung schneller und besser ginge.

• Hauptmangel der Stadterweiterungen — Fehlen von „Folgeeinrichtungen“.

Wer im Süden in die Per-Albin-Hansson-Siedlung, oder im Norden nach Neu-Kagran, oder in die Großfeldsiedlung einzieht, muß damit rechnen, daß er für seine Kinder keinen Kindergarten vorfindet, daß \er keine öffentlichen Verkehrsverbindungen hat, von Langeweile befallen wird, weil es zu wenig Lokale gibt, keine Knöpfe oder Fahrradschläuche einkaufen kann und sogar auf Sport und vieles andere verzichten muß, weil diese Folgeeinrichtungen des Wohnens einfach fehlen. Nun gibt es, volkswirtschaftlich gesehen, vielleicht an manchen Orten zuviele Geschäfte; in den neuen Stadtteilen aber sicherlich zu wenige. Warum es dort kaum Spiel-und Grünflächen gibt, ist ein Rätsel.

Eine weitere Vorgangsweise — wenn man nicht ebenfalls suspekte Rentabilitätsrechnungen vermuten möchte — ist einfach als Trägheit zu klassifizieren: Der Ausbau der Infrastruktur hinkt den Neubauten um etliche Jahre nach. An der Erzherzog-Karl-Straße in Wien jedoch steigen tausende Neumieter jahrelang im Dreck herum, bis Straßen und Tramwaygeleise fertig sind und die Kinder werden schon wieder ausziehen, wenn es einmal genug Kindergärten gibt...

• Funktionstrennung und soziale Monokulturen zerstören städtische Mannigfaltigkeit.

Die größte Erkenntnis der neueren Urbanistik gegenüber der in manchen Punkten veralteten „Charte d' Athene“ ist die Wiederentdeckung der Funktionsmischung als Ferment großstädtischen Lebens. Freilich müssen Schwerindustrien von Wohngebieten weit getrennt bleiben. Aber viele andere Gewerbe, Tätigkeiten, Schulen brauchen eine sorgfältige Mischung mit Wohngebieten. Städtebau in Wien trennt aber immer noch nach alter Sitte fein säuberlich die Funktionen und erbringt als Resultat öde Vorstadtbezirke.

Das Unverständnis geht so weit, daß man auch, trotz aller negativen Erfahrungen, „soziale Monokulturen“ schafft, wie Großpensionistenheime, eine sinnlose „Stadt des Kindes“ (ganz abgelegen am äußersten Stadtrand) und dergleichen.

• Städtische Demokratie-Partizipation der Bürger gibt es nicht.

Der Bürger wird weder gefragt, noch gehört, noch estimiert. Das Bewußtsein der Machtlosigkeit verwandelt sich in Groll gegen alle Politiker, ob schuldig oder unschuldig. Es muß schon etwas Besonders geschehen, es müssen ein paar tausend Wähler auf dem Spiel stehen, bis Gemeindeinstanzen in Trab gesetzt werden. Zeitungsmeldungen, mutige Journalisten spielen da eine wichtige Rolle! Seit eine Tageszeitung Spielplätze sucht, geschehen unglaubliche Dinge. Die Wiener brauchen mehr Zivilcourage! • Wien ist nur theoretisch untergliedert.

Jeder eingeborene Wiener weiß, daß es „Dörfer“ mit eigenem Charakter in der Stadt gibt und auch einige Bezirke mit Lokalkolorit. Aber das ist im Verschwinden. Nicht, weil es die Leute nicht wollten, sondern weil es durch eine zentralisti-sche Verwaltung zerstört wird — trotz aller gegenteiligen Beteuerungen.

Die Wiener Stadtverwaltung hat viele internationale Entwicklungen verschlafen. Um die Jahrhundertwende kannte man als Leitinstrument des Stadtwachstums nur „ätadtregulierung“ (Straßenplanung, Bauhöhenzonung und dergleichen); damals war man auch in Wien auf der Höhe der Zeit. Aber als man in der übrigen Welt schon zur „Stadtplanung“ überging, wobei die Flächenwidmung des Gesamtareals im Vordergrund stand, beschäftigte man sich in Wien noch mit Lücken-verbauung. „Stadterweiterung“ hat man eben noch mitgekriegt, als die Großstädte der Welt schon bei der „Stadterneuerung“ (Umbau der Innenstädte) waren. Nun ist man bereits zum „Stadtentwicklungs“-Denzen übergegangen, bei dem alle Faktoren städtischen Lebens, von der Bevölkerungsentwicklung über Stadtwirtschaft, bis zu Arbeitsmarktpolitik und zum Großraumverkehr in die Konzepte einbezogen werden — aber in Wien will man bloß das Etikett ändern und verkauft Trendreports als „Leitbild der Stadtentwicklung“.

Nur wer sich bewußt ist, wieviel Forschung und rationale Überlegung einer kommunalpolitischen Entscheidung in einem so komplexen System wie es eine Großstadt ist, vorangehen muß, kann eine veraritwort-bare Aussage machen! Das ist die Quintessenz: Wer mit bloßen Meinungen hantiert und regiert, wie zu Bielohlaweks Zeiten, kann einer Stadt und einer Gesellschaft, die voll; der Probleme ist, keine Rettung bringen.

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