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Gesicht dieser Stadt

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In diesen Wochen, in denen der frühe Sommer merkbar in den Hochsommer gleitet, wiederholt sich, wie ' manches gute Jahr zuvor, ein Phänomen. Die Stadt fließt aus ins Land, in die Länder. Während dieses Ausströmen in die Weite geschieht, wandelt sich auch das Gesicht der Nähe. Die Stadt selbst ändert sich in ihrem Binnenraum. Aus den Theatern und Konzertsälen der City, aus den Kinos, Tanz- und Vergnügungsplätzen der nahen Vorstadt wandern Tausende — Viele Hunderttausende sind es stets an einem Wochenende — an die Ufer der Donau und in den Wienerwald.

Dieses Ausgreifen, dieses Ausatmen der Stadt hat für den Stadtfremden und Fernen oft etwas Beunruhigendes an sich: reckt sich hier nicht ein Moloch, ein Ungeheuer? Das ist der eine Grund, weshalb wir hier das Wort ergreifen. Zu ihm gesellen sich zwei andere Momente. Der Kampf um Berlin, der im Kalten Krieg nun schon hoch ins zweite Jahr geht, zeigt ebenso, wie die gestrigen Kämpfe um Petersburg und Stalingrad, welchen Entscheidungscharakter die Position der Großstadt im heutigen Weltringen besitzt. Wenn wir hierzulande von der Stadt sprechen, wie die Römer von ihrer Urbs, ihrer Roma, weiß jeder, daß nur eine Stadt gemeint ist: Wien. Das Schicksal Österreichs hängt in allen Bezügen untrennbar an diesem seinem Haupt, das den Titel trug: Haupt- und Residenzstadt Wien. Es geht uns alle an, daß wir über einige Bezüge dieser Stadt uns klar werden.

Eine Tiroler Bauernkapelle marschiert über den Ring. Wiener Volk winkt und jubelt ihr zu. Trachtenfest der Kärntner, Ball der steirischen Landsmannschaften: Veranstaltungen unserer Mitbürger aus den Alpenländern dürfen hier des Erfolges gewiß sein. Die Vorarlberger und Tiroler Studenten sind auf akademischem Boden ebenso sicher einer guten Aufnahme wie der niederösterreichische Bauer, wie der Zivilist aus den Ländern beim Betreten unserer Geschäfte und öffentlichen Lokale. Es sind ja nicht nur die in hundert größeren und kleineren Gaststätten beherbergten Klubs und Vereine der Burgenländer, Stoansteirer, Ausseer, Linzer, Südtiroler und Inntaler, sondern es ist die ganze Stadt, die, ob es nun für Stunden oder Tage gilt, bereit ist, den Bürger aus den Ländern gastfreundlich zu beheimaten.

Mit Recht. Und natürlich. Sosehr der Fremdling oft noch das Fremdsein spürt, die Stadt selbst vergißt instinktiv und bewußt das eine nicht: daß sie selbst geworden ist im und aus dem Zustrom der Menschen aus den Ländern. Das ist eine Tatsache nicht erst des Heute. Reizvoll wäre eine Wanderung durch Wiens alte Plätze, durch seine Kirchen, Palais und Bürgerhäuser, vorbei an den Denkmalen und Denkmälern dieser reichen Stadt und dann jeweils, kurz verweilend festzuhalten, woher die Künstler und Bauherren, die Männer und Frauen kommen, die in Bild und Ton, Skulptur und

Monument das Gesicht der Stadt entscheidend mitgeformt haben. Die Summe ist leicht zu erraten: aus einer Symphonie der Werke, der Geister und Leiber aller österreichischen Lande und Länder wurde d i e Stadt.

Das also ist das eine, das wir sehen und anerkennen müssen: Wien wurde Wien nicht ohne, nicht gegen, sondern allein mit, durch den Zustrom von Kraft und Begabung aus allen Ländern Österreichs. Im Atem der großen Stadt sind eingeschmolzen Lebensmut und Zähigkeit, Nüchternheit und Erwerbssinn der Menschen unserer Alpentäler, Härte und 'Tatkraft des südöstlichen Grenzers, Milde und Verhaltenheit östlicher Ebene, aus Lenaus und Haydns Heimat.

Dann aber ist da, deutlich sichtbar, das andere. Das Fremdartige, das Fremde. Das welthafte Gesicht der großen Stadt. Fremd blickt es den Wanderer aus anderen Gauen an in großstädtischer Atmosphäre, in hundert Ausstellungen etwa moderner Kunst, in einzelnen expressiven Aufführungen von Studios und Experimentierbühnen, hier und dort auch in Schaustellungen unserer Staatstheater. Diese Fremdheit als instinktive Reaktion geht so weit, daß Sortimenter in den Bundesländern gewisse Bücher aus der reichhaltigen Wiener Produktion seit 1945 nicht annehmen, weil Umschlag, Zeichnung und Titel ihnen bereits als .verrückt wienerisch“ erscheinen. Die Massierung des Lebens, die Eile der Menschen auf dem Verkehrswesen, die Zusammenballung im Stadion, in Strombädern, die Uberfüllung gewisser Lokale und Ausflugsorte ruft blitzschnell Kräfte der Abwehr wach. Wie? Hängen diese so disparaten Dinge — moderne Kunst, Publizistik, Kulturproduktion und das tägliche Leben der Massen in der großen Stadt — etwa zusammen? Gewiß, und enger als wir selbst oft denken. Die große Stadt ist heute allenthalben auf der ganzen Welt Schicksal und Heimat eines neuen Menschen, besser vielleicht eines neu werdenden Menschen, eines bestimmten weltgültigen Typus geworden. Seien wir nüchtern und ehrlich: keine Roman-tizismen, kein Volkstanz und keine Pflege volksfrommen Brauchtums entheben uns der Pflicht, der Aufgabe ins Gesicht zu sehen, die in dieser einen Welt auch unserem ganzen Lande gestellt ist, nämlich, den Menschen im großstädtischen Raum, im Kraft- und Zerrfeld der Turbinen, Traktoren, Fabriken, Werkshallen, Kommunalbauten, der Massenbewegungen in politischer, sozialer und seelischer Ausweitung, als einen eigenständigen Typ anzuerkennen, von dessen Ausreifen, in Chaos oder in neuen Bindungen auch das Lebensschicksal des letzten und höch-Einödbauern morgen mitentschieden werden wird. Die Großstadt — und Wien ist nur ein besonders in die Augen springender Fall, eben unser Fall — wie aktuell diese weltgeschichtlich und weltpolitisch heute ist, mag der Schlagschatten Berlins, Schanghais und

Buenos Aires' andeuten — die große Stadt ist gewiß weithin heute noch Experimentierraum. Tausend Versuche in Kunst und 'Kultur, in Bild, Wort und Plastik beweisen dies ebenso wie die tastenden Ansätze neuer Predigt, neuer Mission im Koordinatensystem der großen Stadt. Unbillig wäre es daher, vom Lebens- und etwa Badestil unserer Großstadtmassen, von den um neuen Ausdruck ringenden Bemühungen unserer Künstler und Schriftsteller, eine Klassizität, eine Perfektion zu verlangen, die diese Stunde wesenhaft nicht geben kann. Die Menschheit, und in ihr unser Europa, und in diesem unser Land, und in diesem Land unser Wien, ist auf dem Wege, neue Lebensformen zu zeugen, sich innerlich und äußerlich neu zu organisieren, zu kristallisieren in neuen Gesellschaftsordnungen und Lebenshaltungen. Diese Binsenwahrheit können wir heute täglich aus dem Munde eines amerikanischen katholischen Bischofs, eines deutschen protestantischen Indienmissionärs, eines Chinesenführers hören, wie auch aus dem eines jeden in unserer Stadt lebenden geistig und seelisch wachen Menschen. Die verwirrende Vielfalt tastender Versuche, der dem Land und Länderbewohner befremdende Atem dieser unserer Stadt, alle diese Gefühle des Unbehausten, Heimlosen, die den NichtWiener hier bisweilen befallen und die sich in Angst- und Ressentimentkomplexen zu lösen suchen, alle diese Abbilder und Ausdrucksformen des einen Phänomens der Großstadt Wien wollen und müssen heute richtig verstanden werden — nur dann können wir sie gemeinsam bewältigen.

Zu unser aller Beruhigung darf aber nun endlich auch eines festgestellt werden: die große Stadt, unser Wien, ist nicht nur Experimentierfeld, Kochkessel von Neuerungen und Neuheiten aller Art, Kampfraum, in dem mit um eine Neuformung der Welt gerungen wird, die Großstadt Wien trägt bereits sichtbare Zeichen der Bewährung, der Meisterung der Not dieser Zeit und Stunde.

Wenn, wie im Volks- und Burggarten, in allen öffentlichen Anlagen sich die Stadt in dieser Stunde in Rosen gewandet, wenn an einigen hundert großen Bauaufträgen gearbeitet wird, wenn internationale; Festwochen Gäste aus aller Welt nach Wien bringen, wenn unsere Oper, unsere führenden Orchester im Verein mit Ausstellungen alter und neuer Kunst, mit so manchen trefflichen Darbietungen unserer Verlage, in Europa und Übersee den Namen Wiens in alle Welt hinaustragen, wenn ein führender amerikanischer Publizist eine Wiener Zeitschrift als die beste Europas bezeichnen konnte, dann zeigen diese Zeichen eindeutig, daß in unser aller Hauptstadt Wien nicht nur Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten zu Hause sind, sondern daß hier Großes und Entscheidendes gemeistert wird. Daß nämlich diese Dinge nicht nur Sachen des Augen-' Scheins, des „Theaters“ sind, manifestiert eine Tatsache, die zu guter Letzt von aller Augen besehen werden will. Es ist dies die ungeheure innere Disziplin, die die Masse der Wiener Bevölkerung in den schweren Jahren 1945 bis 1948 bewies, während schwerer Belagerung und brüllender Straßenschlacht, dann im Kampf um das tägliche Brot, in diesem Durchringen durch die harten Jahre der Erbsen- und Linsengerichte. Wie viele Kinder haben kein Fleisch, keine Butter, keine Milch gesehen, während anderen Orts die Schweine gemästet wurden mit Abfällen, die hier die Hochschätzung einer „gut bürgerlichen“ Küche errungen hätten ... Diese innere Disziplin im Ringen um das tägliche Brot hat ihre Krönung gefunden in einer staatsbürgerlichen und einer politischen Disziplin der Wiener Bevölkerung, die sich vor den

Augen Europas und der Welt wohl sehen lassen kann. Sie hat jeder Maiaufmarsch, jede Massenkundgebung ebenso immer wieder erwiesen, wie die Ablehnung zahlloser Provokationen, Herausforderungen und Störungsversuche von Seiten dunkler Mächte. Zwei Millionen Menschen gehen, zusammengedrängt auf engstem Raum, einem Überdruck großer und größter Mächte ausgesetzt, einträchtig ihren Lebensweg.

Der Hochsommer steht vor der Tür. Die Großstadt hat alle ihre Tore aufgetan. Hunderttausende strömen über die Stadtgrenzen hinaus. Das Gesicht der Stadt öffnet sich, tut sich auf dem Gesicht des Landes. Möge jeder in seine Falten und Risse schauen, und in ihnen die Schwere der Zeit erkennen: unauslöschlich eingegraben sind im Gesicht der großen Stadt, in diesem unseren Wien, die Male Österreichs, die Härte, Not und Größe seines Schicksals in eben dieser Stunde.

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