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Metropolis

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Wer Europa heute sehen will, muß nach Berlin gehen: unser aller Gefährdung, unser aller Chancen kann man ablesen, in jeder Stunde, am Gesicht dieser unvergleichlichen Stadt, die ein riesiges Trümmerfeld ist und immer noch ein Schlachtfeld, eine Stätte rastloser Arbeit, ein Ort der Wissenschaft, der Freiheit; eine Festung, in der Krieg und Friede zusammen hausen.

Aus der dunklen Nacht grenzt sich für den Blick aus der Maschine ein Lichtraum aus: viele tausend kleine Lichter, in Straßen, Häusern, an Brücken und Übergängen, die für die Hoffnung von 2,1 Millionen Menschen stehen. Schon schert die Maschine in Tempelhof ein; rollt am Denkmal der Opfer der Luftbrücke vorbei; am 12. Mai 1949 wurde die Blockade aufgehoben. Das ist der erste Tag der Wiedergeburt. Alles, was heute wieder ersteht in Berlin, wurde nach diesem Tag geschaffen. Düstere Denkmale stehen fest im Boden: hier die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, dort der Trümmerhaufen des Reichstages; gestern diskutable Bauten, heute groß, monumental, ergreifend. Hat das Leid von Millionen Menschen sich hier eingebrannt und die Wucht dieser dem Himmel offenen Kuppeln, das Ungeheure dieser riesigen Mauern, die Brand und Schutt neu gezeichnet haben, geformt?

Wie ist diese Stadt gewachsen in diesen Jahren — in einer inneren Dimension, in einem Wachstum, das zur Zahl kein Verhältnis hat. Sie ist zu einem Mahnmal geworden, das Schläfer, Satte und manche, die andernorts Verantwortung tragen, besehen sollten. Berlin aber ist kein Mythos; es hat sich gestern gegen den Mythos bis zuletzt gewehrt. Noch nach der Machtübernahme, am 5. März 1933, konnten die Mythomanen nur sechs Reichstagsmandate an sich bringen, von 19, die diese Stadt zu vergeben hatte. Heute hat Berlin mehr zu vergeben: die Stellung Europas — und es will zunächst nichts als Verständnis und Hilfe für seine Zahlen.

Am 13. Mai 1949, am Tag nach der Blockade, stand Berlin vor dem Nichts. 160 Millionen DM Verluste der Berliner, Wirtschaft während der Blockade. Produktionsindex: 20 Prozent von 1936; noch immer: 341.000 zerstörte Wohnungen. Die Stadt mit ihren schwer angeschlagenen Betrieben, demontierten oder veralteten Maschinenparks, minderwertigen Rohstoffen, liefert schlechte Nachkriegsware, wird von Westdeutschland mit Qualitätsprodukten einer Wirtschaft, die sich bereits über ein Jahr erholt hat, überschwemmt. Ein erbittertes Ringen setzt ein, schwerer in manchem als sogar in der Zeit der Blockade — unter großen Schwierigkeiten, immer wieder gibt es dazu kleine Verkehrskriege und verwandte Erscheinungen, muß nahezu alles Lebens- und Aufbauwichtige aus dem Westen hereingeschleust werden, durch und über das breite Land des Osten«, das bereits einer anderen Weltordnung zugehört. 1951 beträgt die Gesamterzeugung indexmäßig 42 Prozent (wieder verglichen mit der Basis von 1936) gegenüber 132 Prozent in Westdeutschland. Erste ERP-Mittel beginnen ab Februar 1951 flüssig zu werden. Die Ausfuhr ins Ausland wird 1951 250 Millionen DM betragen, monatlich gehen deutsche Waren für 150 bis 170 Millionen DM nach Westdeutschland, der gegenseitige Austausch mit der Bundesrepublik umfaßt 550.000 bis 600.000 Tonnen monatlich. Dieser Handel unterliegt den erschwerenden Bedingungen fast zahlloser Unsicherheitskoeffizienten, steten Redbungen und Kleinexplosionen des Kalten Krieges. — Dazu nun: Berlin hat heute 268.000 Arbeitslose, die Soziallast 1951 wird 1200 Millionen DM betragen, wovon der Bund in eben diesen Tagen 550 Millionen, als Notopfer für Berlin, übernimmt. Dieses Jahr bringt dem Berliner Haushalt höhere Defizite als je zuvor infolge der Angleichung der Bezüge, Gehälter und Sozialrenten an den Westen, die jetzt erst durchgeführt werden konnte. Ein Ansteigen der sozialen Spannungen ist unverkennbar und drückt auf den Parteitag der SP, der soeben stattfindet.

Sind das nun Zahlen und Verhältnisse der Wirtschaft? Gewiß auch das, aber dazu noch weit mehr — Ausdruck eines weltpolitischen Willens: Berlin „als Schaufenster des Westens mitten im Osten“ zu behaupten. — In hellerleuchteten Schaukästen, die etwa am Kurfürstendann und in anderen Hauptstraßen auf kleinen festgemauerten Sockeln längs der Fahrstraße stehen, liegen die Waren, Werke und Werte des Westens. Schmuck, Luxusdinge, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände, Bücher. Sehr viele Bücher. Das sehen die Menschen aus Ost-Berlin, das heute 900.000 Einwohner zählt. Am Brandenburger Tor stehen sich Ost- und Westpolizei gegenüber. Nicht weit von der Pfaueninsel in der lieblichen Havellandschaft sperrt ein Bretterverschlag die Straße dieser Welt ab: „Die Zone“, das Land der DDR, beginnt hinter diesen Brettern. In Berlin selbst aber strömen tagtäglich Hunderttausende ungehindert von Ost- nach West-Berlin, und von West nach Ost.

Mehr als die Hälfte der West-Berliner Bevölkerung kauft ihr Brot und ihre Kartoffeln im Ostsektor ein. Das tägliche Brot. Es kostet dort etwa ein Viertel des Westpreises. 20.000 Bäcker in West-Berlin sind arbeitslos. Nirgendwo in Europa drängt der Osten so stark, so sinnfällig heran an den Westen wie hier in der Weltstadt Berlin. Er wirbt mit Brot und Spielen, mit Angst und Hoffnung; es ist nicht nur das vorzügliche Theater der Ost-Berliner Bühnen, an denen, wie im Kulturleben Ost-Berlins überhaupt, nicht wenige Wiener und Österreicher tätig sind...

DEFA-Wochenschauen zeigen uns die gigantische Vision des Himmels auf Erden: junge Menschen aller Völker, Rassen und Farben umschlingen sich in Feiertänzen. Neue Sänge, neue Lieder; rhythmisches Klatschen der Hände über dem, Kopf, eine neue Liturgie, ein Wille strömt über in Millionen Leiber. Strahlende Augen, frohe Herzen. Fürstliche Einkommen für Gelehrte und Forscher, eigene Häuser und Wagen für Dichter und Künstler. Madonnenaugen, alte, schwäbische. Madonnen und gotische Kruzifixe werben (auf Ostprospekten) für Frieden. In Schulpforta aber, dieser Schule des deutschen Humanismus und deutscher Frömmigkeit in 400 Jahren (Klopstodc, Fichte, Ranke, Nietzsche und hundert andere Große gingen hier zur Schule), «itzt ein neunundzwanzigjähriger Funktionär der FdJ als Leiter, ' ebenso alt ist der Minister für Volksbildung in Brandenburg. Entlassen sind die meisten Altlehrer, an ihre Stelle sind Neulehrer getreten, ausgebildet in höchstens achtmonatigen Kurzlehrgängen. Entlassen sind die Altrichter, ihre Nachfolger aus Partei und Betrieb besitzen keinerlei juristische Ausbildung mehr.

Die Menschen hungern nicht in der DDR. Weder im Flüchtlingslager Gießen noch in Ost-Berlin sehen wir hungrige Gesichter. Gute Ernten in Getreide und Zuckerrüben; niedrigere Mieten als im

Westen. Ein sicheres Existenzminimum also. Die Waren in der Sphäre des gehobenen Bedarfs sind aber nahezu unerschwinglich. 280.000 Hektar herrenloses Land, verlassen von den Bauern. Mehr als 50 Prozent der Industriekapazität demontiert.

Alle demokratischen Parteien mit Ausnahme der SP sind auch in der Deutschen Demokratischen Republik vorhanden; dem Namen nach. Ein Blick in ihre Ost-Berliner Parteizeitungen: in allen steht dasselbe. — Was hier nun aus dem Osten mit der Dynamik und mit dem Impuls einer weltgeschichtlichen Bewegung herandrängt an Berlin, in Berlin, um Berlin, mit dem festen Entschluß, sich einen neuen Menschen zu schmieden, zu schweißen, illustriert der .Bericht über die Ergebnisse der Uberprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten“, ein Auszug aus dem Referat des Genossen Hermann Matern, den das SED-Organ „Neues Deutschland“ an unserem ersten Tag in Berlin auf drei Seiten Großformat siebenspaltig veröffentlicht.

Einige Farben und Lichter aus dem kritischen Gemälde, das dieser hohe Funktionär von den politischen Zuständen in Ostdeutschland malt. Zunächst: „Es gibt auch noch antisowjetische Stimmungen in der Partei, die vereinzelt i n allen Kreisen der Parteiorganisation in Erscheinung treten.“ „Die Argumentation in der Frage der Oder-Neisse-Friedensgrenze ist in vielen Fällen noch schwach. Die Antworten der Parteimitglieder zeigen, daß die Anerkennung manchmal nur formal ist.“ „Unklarheiten traten in der Frage der gerechten und ungerechten Kriege auf...“ — „Ebenso gibt es pazifistische

Tendenzen, die auch Freiheitskriege ablehnen.“ Manchen Genossen „fehlt ein echtes Nationalbewußtsein und nationales Verantwortungsgefühl“. — Als Beispiel für eine gute „Bündnispolitik“ (zwischen der Arbeiterklasse und dem werktätigen Bauern etwa) wird angeführt ein „Freundschaftsvertrag“ zwischen einem Braunkohlenwerk . und einem bäuerlichen Dorf, „welcher einerseits den Bau von Schweinehütten, die Ausführung von Reparaturen an landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten, die kulturelle Betreuung der Dorfbevölkerung und vor allem den planmäßigen Einsatz von Agitationsgruppen vorsieht. Andererseits verpflichteten sich die Bauern zur vorfristigen Sollerfüllung, zum Abschluß von Schweinemastverträgen und zur Anlegung von Mitschurin-Feldern“. — Arbeiterklasse und Intelligenz. — Matern weist das Wort des Genossen Lobedahn zurück, der sagt: „Was nützt uns die Intelligenz mit ihren Vorschlägen? Sie setzt sich nach dem Westen ab, obwohl wir es ihnen hinten und vorne hineinstecken.“ — Matern aber fordert „die Festigung des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz“. — Politik: Auf die Genossen der DDR, der SED, scheint die Propaganda der westdeutschen SP nicht ohne Eindruck zu bleiben. Mit Adenauer werden sie leicht fertig, „mit der Demaskierung der Politik Schumachers finden sie sich nicht so gut zurecht und können sie nicht ausreichend entlarven“. „Es gibt eine Anzahl Genossen, die als verantwortliche Staatsfunktionäre tätig sind, aber noch kein einziges Werk der Klassiker des Marxismus-Leninismus studiert haben.“ —■ „In den Verwaltungen hindert die Angst, der Respekt und die Unterwürfigkeit vor den höhergestellten Funktionären oft die Entfaltung der Kritik und Selbstkritik.“ — In gewissen Kontrollkommissionen nahm ein .Versöhnler- und Sektierertum“ bei der Uberprüfung der Mitgliedsbücher überhand.

Sehr ins einzelne und einzelnste gehend, kritisiert hier Matern mit einem fanatischen Einsatz für s e i n e Wahrheit, den man den Exponenten des Westens für ihre Wahrheit nur wünschen könnte; kritisiert die Arbeit der Parteileitungen, der Organisationen, in den volkseigenen Gütern, in den Privatbetrieben, in den Verwaltungen, in den Wohngruppen, in den ländlichen Orten, in den Kadern. Er scheut nicht zurück vor der schwerwiegenden Aussage: „Die Sorge um den Menschen wird bei uns noch sehr klein geschrieben.“

Unser Kurzbericht kann die bis ins Letzte gehende Entschlossenheit dieser im Rahmen ihres Gesichtswinkels umfassenden Kritik nur andeuten. Mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen gegen andere, aber auch gegen sich selbst, wird hier ein Volk umgestellt, umgeschaltet, umerzogen. — 1,6 Millionen Ostzonen-flüchtlinge in Westdeutschland. 175.000 Flüchtlinge in Berlin.

Und dieses Berlin lebt; zerteilt in zwei Welten. Menschen gehen hinüber, wandern herüber. Täglich. Bei Tag und Nacht. Arbeiten, fürchten, hoffen. Kleine Jungen sitzen an diesem späten Herbstabend auf der Treppe vor dem Hause und spielen Kreisel. Hausfrauen bei letzten Einkäufen. „Hier wird Ostgeld angenommen.“ Das ist das Ergreifende an dieser unvergleichlichen Stadt, die heute eine Faszination besitzt wie kein Ort in der Scheingeborgenheit des Westens. Die Menschen hier haben täglich das ganz andere vor Augen (viel, viel stärker und anders als etwa in Wien), sind seinem Druck ausgesetzt. Sie leben in zwei Welten, die sich, gerüstet, gegenüberstehen. Jeder verbaute Ziegel in West-Berlin ist eine Hoffnung anscheinend wider alle Hoffnung, jede Fensterscheibe eine überwundene Angst, jedes Buch ein Tor in eine Freiheit, die ringsum bereits gestorben, verdorben, zerschlagen ist.

Wird irgendwo die Schwäche der westlichen Welt sichtbarer als hier? Jede Stunde kann die Schlagadern der Wirtschaft, des Verkehrs lahmlegen, können die Schlagbäume an den Straßen, die Barrikaden von gestern wieder erstehen. Nirgends aber auch wird sichtbarer die geheime Stärke des Menschen, geballt heute in diesen unseren Schicksalsieldern, in der Großen Stadt: Dauern und Harren; Austragen: Das in schnellen Worten und harten Taten Unüberwindliche der großen Gegensätze, die kein Krieg und keine Konferenz zu überwinden vermag, wird hier besiegt durch das Stehen der Stadt, durch den Mut zahlloser kleiner Leute. Wenn sich die Großen, die vor Angst und Mißtrauen schwitzen, hier ein Beispiel vornähmen und sich das Vertrauen gestatteten, das diese Millionen Städter täglich zum schlichten, nackten Leben brauchen, dann könnte sich vieles in der Welt zum Besseren wandeln. Und Berlin könnte in Ruhe einem neuen Tag entgegengehen.

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