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Die geistigen Triebkräfte im Werke Gandhis

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Wie immer sich Indien gestalten mag, das Antlitz Gandhis wird noch viele Generationen hindurch beherrschend auf dem Bild des Landes bleiben.

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Wie immer sich Indien gestalten mag, das Antlitz Gandhis wird noch viele Generationen hindurch beherrschend auf dem Bild des Landes bleiben.

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Nichts ist vom Sterblichen an Gandhi geblieben. Die Asche seines Leibes ist in den Fluten des heiligen Ganges verschwunden. Als Gandhi am 26. März 1931 nach den blutigen Zusammenstößen zwischen Hindus und Mohammedanern sich an das indische Volk wandte, als er fühlte, wie sich allmählich der Widerstand gegen ihn anbahnte, sagte er: „Ihr könnt mich ermorden, ihr könnt mir die Kehle durch- schneiden, aber selbst, wenn ihr Gandhi tötet, werdet ihr Gandhis Sache nicht töten.“ Diese Worte standen unsichtbar über dem Scheiterhaufen, auf dem did Leiche des großen Inders den Flammen übergeben wurde. Wie immer sich Indien gestalten mag, das Antlitz Gandhis wird noch viele Generationen hindurch auf dem Bilde Indiens beherrschend im Vordergrund bleiben.

Was war Gandhi? „Ein sterblicher Halbgott, der die neue Menschheit fortführt in die neue Zeit“, wird er von Romain Rolland genannt, der den Völkern Indiens sein Buch über Gandhi widmet „zum Jahrestag der Verurteilung ihres Messias“ (1922). J. H. Holmes, ein Amerikaner, schreibt: „Wenn ich an eine Wiedergeburt glaubte, würde ich in Mahatma Gandhi Christus erblichen, der auf die Erde zurückgekehrt ist. Die Seele des Mahatma ist die Seele Christi." Rabindranath Tagore, der in grundsätzlichem Gegensatz zu Gandhi stand, preist ihn doch: „Wer ihn kennt, der wird unsterblich.“ Und doch fiel dieser Mann den Kugeln eines Mörders aus dem eigenen Volk und Glauben zum Opfer.

Rätsel für Europäer

Gandhi selbst hat sich immer wieder gegen jede Verhimmlichung energisch gewehrt. „Ich bin nur ein bescheidener Sucher der Wahrheit, der Fehler macht und sie offen gesteht“; „vom selben vergänglichen Fleisch wie das schwächlichste meiner Mitwesen und deshalb bin ich ebensosehr dem Irrtum unterworfen wie irgendeines"; „ich bin mir meiner Unvollkommenheit schmerzlich bewußt"; „ich halte es für eine Gotteslästerung, mich als eine Inkarnation Gottes darzustellen."

Gandhis Persönlichkeit und Wirken bleibt dem Europäer nur zu sehr ein Rätsel. Wollen wir aus seinen Worten und Taten seine Gedankenwelt analysieren, so treten drei ganz verschiedene Linien hervor, die sich in Gandhi treffen und die wir als innere Triebkräfte seines Wirkens feststellen müssen. Die innere Disharmonie dieser drei macht es erklärlich, daß sein geistiges Wesen so schillernd und so schwer greifbar ist. Die erste und beherrschende Linie ist der Hinduismus mit der brahmanischen Ethik.

Klösterliche Einsamkeit

Gandhi gehörte von Geburt aus den Jainas an, einer hinduistischen Sekte, deren oberster Grundsatz ist: „Ahimsa“, das heißt: Nichts Böses zufügen. Kultur und Welt sind dem Hindu nur Schein und Trug. Das höchste Ziel ist, sich von der Welt zu lösen und als Sanyasi in der Einsamkeit des einfachen Lebens und der religiösen Betrachtung unterzugehen. Gandhi war ein Vertreter dieser weit- und kultuf- abgewandten Ethik. Er lebte in seinem Ashram, in klösterlicher Einsamkeit. Er war ganz Hindu. Mit Nachdruck betont er: „Ich bezeichne mich als orthodoxen Hindu" und gab seinem Glauben allen andern Religionen gegenüber den Vorrang.

Allerdings stützte er sich nicht auf die religionsphilosophischen Spekulationen der großen indischen Weisen. Er verstand nicht Sanskrit und mußte sich mit Übersetzungen der heiligen Texte in seine Muttersprache begnügen. Die übrigen Religionen betrachtete er als verschieden leuchtende Strahlen, die von der einen Lichtquelle des Allgöttlichen wie durch ein Prisma in verschiedenen Farben auf die Menschen fallen. So ist der Hindu Gandhi konsequent von Haus aus Synchretist, der alle religiösen Gegensätze nur als Schein betrachtet, die aber in sich alle vereinbar sind.

Die zweite Linie, die sich eigenartig mit der ersten verbindet, ist das m i t d e n Augen Tolstois gesehene Chri- stentum. Von Tolstoi, mit dem et eine Zeitlang in regem Briefwechsel stand, übernahm er die Bergpredigt Christi als eine anarchische Urgesetzgebung. Gandhi findet besonders in Tolstois Buch „Das Reich Gottes ist in euch“ seine aszetischen Ideale. „Der tiefste Fluch“, sagt er, „ist die Gewalt, die unter allen Umständen in jeder Form gebrochen werden muß.“ Daraus folgert er die Notwendigkeit einer großen moralischen Resistenzbewegung gegen alles, was durch Gewalt besteht, Krieg und Staat, Steuer und Polizei, Gericht und Machtordnung der Welt.

Charakteristisch sind seine Worte: „Das Neue Testament machte auf mich einen ganz besonderen Eindruck, vor allem die Bergpredigt. Die Stelle: ,Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Leid nicht widerstreben ... Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, so reiche ihm auch die Linke ..entzückte mich über die Maßen. Mein jugendlicher Sinn bemühte sich, die Lehre der Gita und der Bergpredigt miteinander zu vereinen. Der Gedanke der Entsagung als der höchsten Form der Religion war so recht nach meinem Herzen.“ Unter dem Eindruck der tolstoianischen Interpretation schrieb er: „Ich hatte den Gedanken des Dienens zu meiner Religion gemacht, weil ich fühlte, daß Gott nur im Dienen erlebt werden kann. Und Dienst war für mich Dienst an der indischen Sache.“

Nationalismus und Freiheitsbewegung

Diese ganze Welt der Gedanken wurde nun durch eine dritte, wahrhaft dynamische Linie in Bewegung gesetzt, durch den Nationalismus. In Gandhi verkörpert sich die große, aus den tiefsten Tiefen Indiens quellende Freiheitsbewegung. Sie ist die entscheidendste, in der seit der Jahrhundertwende sich steigenden Flut des nationalen Erwachens des Orients geworden. Gandhi stellte der physischen Gewalt die moralischen Seelenkräfte entgegen. Er überschätzte dabei die Kraft der menschlichen Natur. Machtwille auf Seite seines Gegners, uneindämmbare Leidenschaft des Kampfes und wachsende Glut des Hasses auf Seite des indischen Volkes lösten eine Spannung aus, welche bei der Millionenmasse der religiös, kastenmäßig und sprachlich getrennten Inder die auf brahmanische Ethik und tolstodanisches Christentum aufgebaute Strategie eines. Gandhi letztlich ausschalten mußten. Gandhi hat alles auf- geboten, das falsche Feuer zu löschen. Es ist ihm nicht gelungen.

Es läßt sich nicht ermessen, was geworden wäre, wenn der Mahatma alle religiös-ethischen Kräfte seines Volkes für eine noch längere Zeit zu entfalten vermocht hätte. Aus seiner innerst- religiösen Überzeugung heraus hätte er den mehr weltlichen Charakter der indischen Nationalbewegung in einen religiösen verwandelt. In seiner Selbstbiographie legte er das Bekenntnis zu seiner Politik nieder: „Mein Dienst an der Nation ist ein Teil der Zucht, der ich mich unterziehe, um meine Seele aus den Banden des Fleisches zu befreien ... ich habe kein Begehren nach einem vergänglichen Reich von dieser Welt. Ich strebe nach dem Himmelreich ... Meine Vaterlandsliebe ist für mich nur eine Strecke auf meiner Reise in das Land ewiger Freiheit und ewigen Friedens. Damit ist es auch klar, daß es für mich keine Politik gibt, die nicht zugleich Religion wäre. Politik dient der Religion. Politik ohne Religion ist eine Menschenfalle, denn sie tötet die Seele... Mag daher ein Mohammedaner oder ein Christ oder ein Hindu .mich hassen, so will ich ihn lieben und ihm dienen, wie ich mein Weib und meinen Sohn lieben würde, auch wenn sie mich haßten.“

Der Wahrheitssucher

In den beiden ersten Phasen des Kampfes um Indiens Freiheit im Zeichen der Gewaltlosigkeit und der Non-Cooperation blieb Gandhi der Erfolg nicht versagt. Von 1919 bis 1925 beherrschte er moralisch die Millionen Indiens, die ihm blindlings folgten. Unter dem wachsenden Einfluß der vom Säkularismus berührten jüngeren indischen Führerschicht wurde Jas Schwergewicht der indischen Widerstandskraft vom Religiösen weg verschoben. So wuchsen gegen den Mahatma Kritik und Gegnerschaft. Gandhi fiel. Wenige Tage vor seinem Tode hatte Pandit Nehru gesagt: ,/Wer Gandhi tötet, tötet Indien!" War es nur ein Wort wie viele? Oder angstvolles Ahnen dessen, was über Indien kommen kann?

Gandhis Größe liegt nicht in der politischen, sondern in der ethischen Sphäre. Als um 1924 seine besten Freunde ihn bewegen wollten, den hoffnungslosen Boden der Politik zu verlassen und sich als Mahatma ganz der geistigen Erneuerung Indiens zu widmen, lehnte er ab. Er war Politiker aus Religion. Für Indiens äußere Freiheit und inneren Frieden hatte er in Gefängnissen geschmachtet, freiwillig gefastet und alle Härten und Bitterkeiten des politischen Kampfes durchkostet. „Aber", sagte er, „wir haben noch nicht genug gelitten.“ Er stand im Gehorsam seines Gewissens. „Der einzige Tyrann, den ich in dieser Welt anerkenne, ist die leise innere Stimme. Ihr muß ich folgen.“ Sein Wirken für Indien war Gandhis „Dharma“, das heißt Bestimmung, der er treu bleiben mußte.

Gandhi war kein Christ und wollte es nicht sein. Er war Wahrheitsucher. Er stand dem Christentum kritisch gegenüber. Aber er handelte und litt unter der Macht seines Gewissens. Gerade aus der Weite der inneren Katholizität der Kirche, die sich beugt vor der Majestät des subjektiven Gewissens, neigen wir uns in Ehrfurcht vor dem toten Mahatma, der großen Seele Indiens.

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