Leben und sterben wie Jesus von Nazaret

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Wer ist ein Märtyrer? Im Kontext der Leiden des salvadorianischen Volkes wird diese Frage neu buchstabiert: Nicht dass Óscar Romero den Schutzlosesten eine Stimme gegeben hat, birgt letztlich Heil und Hoffnung, sondern dass er dies mit Leben und Tod besiegelt hat.

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Wer ist ein Märtyrer? Im Kontext der Leiden des salvadorianischen Volkes wird diese Frage neu buchstabiert: Nicht dass Óscar Romero den Schutzlosesten eine Stimme gegeben hat, birgt letztlich Heil und Hoffnung, sondern dass er dies mit Leben und Tod besiegelt hat.

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Am 3. Februar dieses Jahres unterschrieb Papst Franziskus das Dekret, das Óscar Arnulfo Romero als Märtyrer anerkennt. Über alle Einzelheiten hinaus setzt dieser Papst damit eine weitere seiner prophetischen Zeichenhandlungen - das Instrumentarium dessen sich Franziskus so virtuos bedient, wenn er etwa der jungen Muslimin in der römischen Jugendanstalt anstatt dem Kurienkardinal die Füße wäscht oder seine erste Auslandsreise nach Lampedusa macht. Die folgenden Überlegungen möchten den Appell, der von dieser prophetischen Handlung ausgeht, entschlüsseln.

Dem Leiden eine Stimme verleihen

Óscar Romero hatte in seiner historischen Stunde, den Jahren unmittelbar vor dem salvadorianischen Bürgerkrieg (1980-92), das prophetische Charisma, dem Leiden der Menschen in El Salvador kraftvoll eine Stimme zu verleihen. Die arme Bevölkerungsmehrheit wurde brutal unterdrückt, barbarischer Gewalt ausgeliefert und aus Häusern und Heimat gejagt. Sie erlebte den Alptraum von Folter, Flucht und Vertreibung und die schmerzliche Trennung von geliebten Menschen durch Tod und Verschleppung. Diese Menschen verstanden unmittelbar: Óscar Romero spricht von uns, von dem, was wir Tag für Tag am eigenen Leib erleiden. Wenn er uns als "gekreuzigtes Volk" anspricht, dann macht er damit nicht nur Worte, sondern er gibt uns unsere Würde zurück und spricht uns eine letztgültige Hoffnung zu: Ihr seid der gekreuzigte Christus in der Geschichte. Ihr seid sein gemarterter Leib, so wie der Leib des armen Mannes aus Nazaret, in dem Gott in dieser durch die Sünde entstellten Welt für immer gegenwärtig wurde.

Óscar Romero markiert in der salvadorianischen Kirche den Einbruch einer unerwartet neuen und kraftvollen Weise, das Evangelium zu verkünden und die Sünde anzuklagen. Diese ist die radikale Kritik jeder wirklichkeitsleeren frommen Rhetorik, die das in der Geschichte "gemarterte Fleisch" ignoriert. In der neuen Art zu sprechen inkarniert sich das lebendige Wort Gottes, "kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert" (Hebr 4,12). Mit den Worten des evangelischen Märtyrers Dietrich Bonhoeffer: Es schafft Wirklichkeit, ist "befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu selbst".

Óscar Romero hatte eine außerordentliche sprachschöpferische Begabung, um die unerträgliche Wirklichkeit und das Leiden der Menschen ins Wort zu bringen. Doch letztendlich ist es nicht dies, was seinem Worten heils- und hoffnungsstiftendes Potenzial verleiht und die Herzen der Verletzlichsten und Schutzlosesten erreicht, sondern deren unbedingte Kohärenz mit seinem Leben. Er hat sie mit seinem Blut besiegelt.

Das Gedächtnis der Märtyrer zu feiern ist gefährlich. Es verpflichtet, sich wie diese im Innersten von der Verzweiflung und Angst, vom Martyrium, das auch heute die Opfer erleiden, berühren zu lassen: seien dies die Menschen, die vor der Küste Afrikas ertrinken, oder die in den Armengettos Zentralamerikas von den gewalttätigen Jugendbanden, Instrument des organisierten Verbrechens, terrorisiert werden. Es verlangt ab, was wie ein selbstzerstörerischer Wahnsinn erscheinen mag: Sich mit der ganzen Existenz gegen die Maschinerie zu stemmen, die die Schwachen unbarmherzig niederwalzt. Das Gedächtnis der gequälten Leiber und des Bluts der Märtyrer zu begehen, unter ihnen der "Proto-Märtyrer" Jesus von Nazaret, erlaubt keine Light-Version des Feierns. Es weist uns in ihre Nachfolge ein, oder es ist nichts als eine pathetische Lüge, die uns zum Gericht wird (vgl. 1 Kor 11,29).

Das Erbe der Märtyrer fruchtbar zu machen, ihrem Vermächtnis getreu Theologie zu treiben und Kirche zu sein, erlaubt auch nicht, dieses einfach steril, stereotyp, zu wiederholen. Es verpflichtet zu einer geduldigen Übung der "Kontemplation", zu ehrlicher Aufmerksamkeit für das "gekreuzigte Volk" hier und heute. Wenn wir bereit sind, das Leid aufmerksam zu sehen, dann wird dies wehtun, es wird durch Mark und Bein gehen. Doch nur aus einem solchen Schmerz kann eine neue theologische und pastorale Sprache geboren werden, wirksam und hoffnungsstiftend, so wie die Sprache Romeros. Vielleicht ist es ja auch das, was die Sprache des aktuellen Papstes so erfrischend macht.

Das gekreuzigte Volk ist das "Volk Gottes"

Ignacio Ellacuría, Jesuit, Theologe und Rektor der zentralamerikanischen Universität UCA in San Salvador, kann als intellektuelles Echo Óscar Romeros gelten. Auch er wurde zum Märtyrer. Sein wegweisender Aufsatz übers "gekreuzigte Volk" beginnt mit beunruhigenden Fragen: Wenn Jesus vor 2000 Jahren das Reich Gottes verkündete und die Kirche seither unablässig versichert, dass wir bereits erlöst sind, wie kann es dann sein, dass ein großer Teil der Menschheit immer noch und immer neu gekreuzigt wird? Was kann angesichts der Tatsache, dass einem guten Teil der Menschheit fortgesetzt die erdrückende Last der "Sünde der Welt" aufgebürdet ist, die Aussage bedeuten, dass Jesus alle Menschen erlöst hat? Ignacio Ellacuría entlarvt die "falsche Spiritualisierung" des Sprechens über christliches Heil. Seine Verkitschung und Mystifizierung pervertieren die Verkündigung in vage, wirklichkeitsleere Versprechungen, so wie die Versprechen der Parteien im Wahlkampf, der in El Salvador soeben zu Ende gegangen ist.

Ellacuría fragt: Wer ist eigentlich "Gottes erwähltes Volk"? Wer ist die "wahre Kirche", das "wahre Subjekt der Heilssendung Jesu Christi in der Geschichte"? Das II. Vatikanum sagt, die Kirche sei "Sakrament, Zeichen und Werkzeug, des Heils". Für Ellacuría ist diese Aussage zu unbestimmt. Indem er sie konkretisiert, vollzieht er die radikale Umkehrung herkömmlicher Perspektive. Das "gekreuzigte Volk" ist das "wahre Volk Gottes" und damit das "Sakrament unseres Heils". Im gekreuzigten Volk ist Gott konkret anwesend, es ist Werkzeug, mit dem er sein Heilswerk an der gesamten Menschheit fortsetzt.

Mit den Worten von Ellacurías Mitbruder Jon Sobrino: "Die Erlösung kommt von unten!" Dies besagt, sie kommt nicht von oben, nicht von den Machtzentren von Politik und Wirtschaft, auch nicht von gutmeinenden internationalen Entwicklungsorganisationen. Diese radikale Umkehrung der Perspektiven steht im Einklang mit dem Evangelium und erscheint dennoch skandalös.

"Außerhalb der Armen kein Heil"

Wir beten am Karfreitag: "Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung." Als Jugendliche provozierte dieser Satz in mir eine Krise, als mir klar wurde, dass uns das Kreuz mit dem armen Menschen Jesus von Nazaret konfrontiert, einem grausam und ungerecht zu Tode Gefolterten. Was soll die Behauptung, darin sei Leben, Heil, Hoffnung? Es ist ein und derselbe Skandal, dieselbe Verrücktheit, vor dem Kreuz Jesu und vor den Kreuzen der vielen in der Geschichte zu Tode Gefolterten in die Knie zu gehen und gläubig zu bekennen, dass ihr Tod Heil und Erlösung hervorbringt. Es ist unser Glaube an den in der gemarterten Menschheit fleischgewordenen Christus.

"Außerhalb der Armen kein Heil", sagt Jon Sobrino. Gottes schöpferische und erlösende Liebe ist in ihrem tagtäglichen heroischen Kampf ums Leben und Überleben gegenwärtig. Die Armen sind der "Vorübergang Gottes - Pascha" in der Geschichte. Sie tragen unsere Sünde, und durch ihre Wunden sind wir geheilt (Jes 53). Und wer, wenn nicht sie, kann das Herz aus Stein aus unserer Brust reißen und uns ein neues und lebendiges Herz (Ez 36,26) schenken?

Das Evangelium ist die harsche Aufforderung zur Bekehrung an Mächtige und Privilegierte, an die, die oben sind. Und es ist die große Verheißung für die, die unten leiden. Ihnen sagt es zu: Es gibt für diese Welt keine Rettung und keine Zukunft, wenn sie nicht in euch, in der Qual, die sie euch zufügt, das Geheimnis von Kreuz und Auferstehung Jesu wiedererkennt. Es gibt kein Heil für die Welt, wenn sie nicht vor dem göttlichen Geheimnis niederkniet, das in euch gegenwärtig ist.

Die Autorin, Ordensfrau, lehrt Theologie an der Jesuitenuni UCA in San Salvador

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