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Einen Schrei feiern?

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Wir wissen, daß Du ,unser Bischof bist”, sagte mir vor einigen Wochen eine Frau bei meinem Besuch in einer kleinen Gemeinde an der Transamazönica, „aber man hört da so viele Kommentare, daß der Papst die kleinen kirchlichen Basisgemeinden nicht wolle und daß die Befreiungstheologie verboten sei.” Ja, diese Frau und so viele andere in Lateinameri-kä sind heute verunsichert und haben wohl auch Grund dazu, wenn man daran denkt, daß ein Kardinal in Rom, in einer Mischung von Schadenfreude und sehnlichem Wunsch, verkündete, der Zusammenbruch des Sozialismus in den osteuropäischen Staaten werde nun endlich auch den Zusammenbruch der Befreiungstheologie bewirken. Seit Jahren wird der Befreiungs- • theologie ja vorgeworfen, sie sei marxistisch. Befreiungstheologen sind nach wie vor Verleumdungen und ungerechtfertigten Verdächtigungen ausgesetzt oder stehen fortwährend unter Anklage von Seiten übereifriger kirchlicher Behörden, denen die Probleme, die dieser Theologie zugrunde liegen, leider kaum ein Anliegen sind.

Grausame Realität (siehe Kasten, Anm. d. Red.) liegt der Befreiungstheologie zugrunde. Sie ist der Nährboden, der Humus, aus dem sie entstanden ist und der in letzter Zeit die Verteidiger sozialer Reformen und struktureller Veränderung, die

Heiligen der Dritten Welt, hervorbrachte, die ihr Engagement nur allzuoft mit dem Leben bezahlen mußten. Diese tragischen Tatsachen schüren den Heiligen Zorn und nähren, im Lichte und in der Kraft des Wortes Gottes, die Liebe zu den Armen. Sie inspirierten die Kirche Lateinamerikas in Medellin und Puebla zur Option für die Armen.

All diese Tatsachen machen uns nicht nur betroffen, sondern fordern von uns eine Antwort und werden zum gellenden Schrei der geknechteten Menschen nach Leben.

Die Befreiungstheologie hat sich immer und vor allem als „Theologie” verstanden. Sie hat also mit „Gott” zu tun. Die Frage ist nur, mit welchem „Gott”. Es ist der Gott, der spricht: „Ich habe gesehen, wie mein Volk in Ägypten mißhandelt wird.Ich habegehört, wie es um Hilfe gegen seine Unterdrücker schreit. Ich weiß, was es auszustehen hat, und ich bin herabgekommen, um es von den Ägyptern zu befreien” (Ex 3,7-8).

Es ist der Gott, den Maria von Nazareth in ihrem „Magnificat” hochpreist, weil er „die Mächtigen vom Throne stürzt und die Unterdrückten aufrichtet” (Lk 1,52), es ist der Gott des Jesus von Nazareth, der die Armen und Marginalisier-ten bevorzugte und sie zu den ersten Empfängern seiner Frohen Bot-schaft machte, sie „glücklich”, „selig” preist, nicht weil sie reich werden sollten, sondern weil sie die „Gerechtigkeit des Reiches Gottes” kennen lernen werden.

Und diesen Zusammenhang zwischen Gott, den Armen und ihrer Befreiung, hat die Befreiungstheologie wiederentdeckt und zwar nicht aus gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen, sondern aus der Offenbarung. Dieser Zusammenhang ist biblisch, ist in unserem Glauben begründet, selbst wenn sich heute Kardinäle, Bischöfe, Priester und Laien im „konservativen ” Lager daran stoßen und dagegen aufbegehren. Sie machen deshalb lieber eine feinsäuberliche Trennung zwischen Glauben und Leben, zwischen „religiöser Sendung” und menschlicher Realität und verteufeln die Befreiungstheologie, statt endlich den Mut zu fassen, ungerechte Strukturen anzuprangern und für die Änderung eines so grausamen Systems einzutreten.

Diese Leute denken immer noch genauso wie ihre Vorgänger in der Kolonialzeit. Alles und jedes wird beschönigt und gerechtfertigt: „Zerstörung von Kulturen” wird zu einer „Begegnung der Kulturen” oderzur hochgepriesenen „Zivilisation”, „Invasion und Eroberung” wird zur „Friedensstiftung”, die „Konqui-sta” zur „Entdeckung”, deren 500 Jahre man sich pompös zu feiern anschickt, und die „Vernichtungskriege” werden als „Wechselfälle der Geschichte” auffrisiert und gleichzeitig bagatellisiert, ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen. Ja, so macht man es seit 500 Jahren in diesen Kreisen, und es ist nur allzu klar, daß sich die Verfechter dieses Status quo in der Kirche, diese Dualisten, die den Leib von der Seele, den Glauben vom Leben, die Religion von der konkreten menschlichen und mit-weltlichen Realität zu trennen suchen, durch diese Art von Theologie in ihren Denkschemen angegriffen fühlen.

Gott offenbart sich als lebendiger Gott, als Gott des Lebens, als ein Gott der hört, sieht, fühlt, herabsteigt und die Gerechtigkeit liebt als die einzig wahre Liturgie, die ihm gefällt und alle Frömmigkeit verabscheut, die von der Liebe zum Schwachen, zum Armen, zum Gedemütigten, zum Verachteten, getrennt ist. Und weil Gott ein Gott des Lebens ist, nimmt er auch Partei für alle jene, die weniger Leben haben, denen „Leben” verweigert, geraubt, abgesprochen wird, die in ihrem Leben gefährdet oder bedroht sind, die nach mehr Leben schreien. Die Option für die Armen hat darin ihre theologische Wurzel.

Gott hört den Schrei der Völker: „Wir wollen leben!” Eine Kirche, die diesen Schrei überhört und diejenigen, die auf diesen Schrei eine Antwort geben wollen, von mittelalterlichen Palästen und Prunksälen aus, mit Schweigegeboten und anderen Schikanen behandelt, verleugnet und widersetzt sich dem Gott Jesu Christi und verrät ihre Sendung.

Dieser Zwiespalt und diese Widersprüchlichkeit sind nicht neu. Der Dominikaner Antonio de Mon-tesinos wurde wegen seiner kritischen Einstellung gegenüber der „encomienda”, dieser gräßlichen und zerstörenden Ausbeutung der Arbeitskraft der Indianer, von seinem Provinzial mit dem Schweigegebot bestraft. Als Bartolome de Las Casa im Jahre 1514 auf Kuba im Buch Jesus Sirach die Worte las: „Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt, Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält” (Sir 34,26) hat er sich bekehrt und seine leibeigenen Indianer in Freiheit gesetzt.

Schon damals wurde in kirchlichen Kreisen an den „gesunden Menschenverstand” appelliert, um die Verfechter der Menschenrechte der Indianer zurechtzuweisen oder zu neutralisieren. Dieser „gesunde Menschenverstand” hat oft und oft in der Kirchengeschichte Speichelleckerei und Unterwürfigkeit, Interessen, Ambitionen und Machtansprüche, Duldung und Nachsicht, Mitschuld und unverzeihliche Verantwortungslosigkeit, kaschiert und verbrämt.

Der Schrei der Urbevölkerung des heutigen Amerika, der Schrei der Indianervölker in Kanada, den Vereinigten Staaten, Mexiko, Guatemala, Brasilien, Ecuador, Peru, Bolivien, Paraguay, Chile und allen anderen Ländern Nord- und Südamerikas und der Karibik, dauert nun schon 500 Jahre. Dürfen wir diesen Schrei feiern? t Erwin Kräutler stammt aus Vorarlberg und ist in BrasilienBischof der Prälatur Xingu und Präsident des Indianermissionsrates CIMI. Auszug aus seinem Vortrag „Zum Bedenkjahr 1992: ,Wir wollen lebenl'Der Schrei der Völker von Lateinamerika” am 5. März in Wiener Neustadt.

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