"Keine Kirche hat Alleinanspruch"

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1992 reichte es Leonardo Boff: Vor einem weiteren Lehrverbot durch Rom legte der Befreiungstheologe sein Priesteramt zurück und übernahm eine Ethik- und Ökologie-Professur in Rio de Janeiro, von der er inzwischen emeritiert ist. Ein Gespräch über Religion(en) in Brasilien rund um den Besuch des Papstes, der als Kardinal die Maßregelungen Boffs verantwortete.

In Brasilien wird viel über die so genannte "Teología de prosperidade", die Theologie des Wohlstands, diskutiert. Wie sehen Sie als Vertreter der "Theologie der Befreiung" - also als ein theologischer Antipode - diese neoprotestantische Theologie? Beide sprechen ja vom Reichtum und dessen Verteilung.

Leonardo Boff: Diese Volksreligionen - wie ich sie nenne - oder charismatischen Pfingstkirchen sind das Asyl der Verzweifelten. Derjenigen, die ganz unten leben, die Ärmsten der Armen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, deren elementarste Grundbedürfnisse ignoriert werden. Es mangelt ihnen an menschlichem Zuspruch, an Bindungen. Diese Religionen geben ihnen, was sie nicht haben: Selbstwertgefühl und Selbstachtung. Und das Gefühl, wenn auch niemand in der Welt für sie da ist, Gott nimmt sich ihrer an.

Das Ziel ist natürlich auch eine Art Befreiung. Nur die Mittel der Befreiung sind unterschiedlich. In der Theologie der Befreiung sind die Mittel die Bürgerbewegungen, die Basisgemeinden und ein Glaube, der die Verpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement in sich trägt. Für die Pfingstkirchen aber passiert Befreiung wie ein Wunder, sie ist für sie ein reiner Akt der Demut und Frömmigkeit.

Fast jeden Tag wird eine neue Kirche gegründet. Warum sind die evangelikalen Pfingstkirchen in Brasilien so stark geworden?

Boff: Meiner Meinung nach trägt die katholische Kirche eine große Schuld an dieser Entwicklung. Denn wir bräuchten 120.000 Priester, um 125 Millionen Katholiken zu betreuen. Wir haben aber nur etwa 18.000, fast 3000 davon sind Ausländer, meist aus Europa. Institutionell gesehen ist die katholische Kirche bankrott!

Die Gründe dafür sind der Zölibat, die starre Doktrin und die Unfähigkeit, sich in Fragen der Pastoral zu erneuern. Solange es also keine tief greifenden inneren Reformen in der Kirche gibt, solange man den Zölibat nicht abschafft, nicht erlaubt, dass Laien mehr Verantwortung in der Kirche tragen, wird diese Austrittsbewegung weitergehen.

Da ist ja auch die "Normativität des Faktischen": Nun gibt es diese vielen tausend Pfingstkirchen, sie sind Teil der Realität Brasiliens. Vielleicht tun sie auch etwas Gutes. Wie leben die Brasilianer mit diesem Phänomen?

Boff: Die Brasilianer leben gut mit dieser Realität. Wir sind keine Fundamentalisten, wir diskriminieren niemanden. Es ist auch keine Katastrophe, dass so viele Katholiken ihre Kirche verlassen. Die Menschen sehen die Kirche einfach nicht mehr als ihre spirituelle Heimat, weil man auf ihre religiösen Bedürfnisse nicht wirklich eingeht.

Ich denke, wir müssen das unter einem ökologischen Gesichtspunkt betrachten: Je mehr Artenvielfalt - desto besser!

Das gilt auch für das Christentum. Je bunter das Bild - desto besser. Keine Kirche kann den Alleinanspruch auf das Erbe Jesu stellen.

Gibt es nicht eine indirekte Schuld des Papstes am Erfolg der "Evangelicos", wie man die Pfingstkirchen nennt? Er hat ja die Theologie der Befreiung und deren Vertreter wie Sie niedergehalten.

Boff: Die Verantwortung für diese Entwicklung trägt weniger Papst Benedikt. Der Schuldige ist vielmehr Kardinal Josef Ratzinger. Dieser hat die Theologie der Befreiung isoliert und deren Vertreter bestraft.

Mehr noch: Er diffamierte sie, indem er sie als Trojanisches Pferd darstellte, mit Hilfe dessen der Marxismus in Lateinamerika eindringen wollte.

Das war der große Irrtum des Kardinals Ratzinger. Er sah im Marxismus den großen Feind Lateinamerikas. In Wahrheit aber sind der größte Feind unseres Kontinents der Kapitalismus und der Neoliberalismus, der Millionen Menschen zu Armen und Ausgegrenzten gemacht hat und das auch weiterhin tut.

Die Theologie der Befreiung ist auch ein Mittel gegen die Zurückdrängung der Demokratie. Diese Theologie hat immer für die Demokratie optiert. Mit ihrer Schwächung ist auch der Kampf der Armen geschwächt worden. Das Volk musste mit Trauer feststellen: Der Vatikan unterstützt unsere Unterdrücker. Jesus war selbst arm, war ein Arbeiter, aber das versteht der Vatikan nicht.

In den katholischen Fernsehsendern wie "Canção Nova" treten immer mehr Diskjockeys auf, bringen Rap und Rockmusik, singen gegen Drogen und gegen Sex. Sie propagieren Enthaltsamkeit in der Sprache einer Musik, die gerade aus der entgegengesetzten Erfahrung geboren wurde. Die katholischen Showmaster predigen wie die evangelikalen, nur die Inhalte sind quasi katholisch.

Boff: Es gibt einen Krieg um die religiösen Märkte in Brasilien. Bedauerlicherweise hat die katholische Kirche sich darauf eingelassen, hier mitzutun. Deshalb haben wir heute Priester, die Rockstars, Showprediger, Entertainer im Dienste des Herrn sind, um mit den Pfingstkirchen zu konkurrieren, die auch Massenveranstaltungen lieben.

Das ist oberflächliches Christentum, nie wird dort das Wort Gerechtigkeit auch nur in den Mund genommen. Einer der großen Showmänner, Pater Marcelo Rossi, weiß genau, dass es in São Paolo über eine Million Arbeitslose gibt. Für diese Menschen hat er noch nie ein Wort verwendet, Gott loben und tanzen, das ist alles, was da passiert.

Was erwarten Sie sich von der Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Aparecida (CELAM), die der Papst vergangenen Samstag eröffnet hat?

Boff: Die oberste Aufgabe dieser Konferenz besteht darin, den Weg, der bereits zurückgelegt wurde, zu bekräftigen. Einer Kirche, die die Option für die Armen aufrechterhält, die die christlichen Basisgemeinden als Faktor anerkennt und die Befreiung predigt.

Das ist die Herausforderung angesichts der abgrundtiefen Ungleichheit, die auf unserem Kontinent weiterhin herrscht. Die Sehnsucht nach Demokratie muss angesprochen werden. Die indigenen Völker, die Nachkommen der aus Afrika Verschleppten, wir brauchen auch eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz, es geht nicht, dass die Hälfte der Menschheit ausgeschlossen bleibt von Wohlstand und gesellschaftlichem Reichtum. Darauf kommt es an!

Das Gespräch führte Klaus Ther, Religionsjournalist und Dokumentarfilmer beim ORF-Fernsehen.

Begfreiungstheologe, von Rom geächtet

Weit oben in den Granitbergen der Serra de Araras, in der Nähe der alten Kaiserstadt Petrópolis, lebt Leonardo Boff. Er bewohnt ein Haus, das mitten im Urwald liegt, nur von seiner Frau Marcia, Haustieren und Büchern umgeben. Weißer Bart, Poloshirt, so tritt er dem Gesprächspartner entgegen. Das Haus hätte er von einem katholischen Russen, dessen Familie in der Oktoberrevolution ums Leben gekommen sei, erworben. Ein Bach fließt durch den tropischen Garten, eine kleine rote Brücke führt darüber. Vor dem Gespräch äußert er seine Hoffnung, Österreich bald wieder besuchen zu können. Seine Studienzeit in Bayern und Süddeutschland hat er noch in bester Erinnerung. -

Leonardo Boff, 1938 geboren, trat den brasilianischen Franziskanern bei und wurde 1964 zum Priester geweiht. Danach studierte er in München u.a. bei Karl Rahner, er lernte damals auch den Theologen Joseph Ratzinger kennen. Ab 1970 lehrte er Systematische Theologe in Petrópolis, wo er zu einem der prononciertesten Vertreter der Befreiungstheologie wurde. Nach seinem Buch "Kirche, Charisma und Macht" wurde ihm Mitte der 80er Jahre von der Glaubenskongregation unter Kardinal Ratzinger ein "Bußschweigen" auferlegt. Als er 1992 vor einem erneuten Lehr- und Publikationsverbot stand, gab er sein Priesteramt auf und zog mit der Menschenrechtsaktivistin Marcia Maria Monteiro de Miranda zusammen. 2001 erhielt Leonardo Boff den Alternativen Nobelpreis. Klaus Ther/ofri

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