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Revolutionär und transzendental

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Nach dem „brüderlichen Gespräch" der römischen Glaubenskongregation mit dem Befreiungstheologen Leonardo Boff am 7. September bleiben Fragen betreffend Boffs Kirchenverständnis offen.

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Nach dem „brüderlichen Gespräch" der römischen Glaubenskongregation mit dem Befreiungstheologen Leonardo Boff am 7. September bleiben Fragen betreffend Boffs Kirchenverständnis offen.

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Wer sich heute über die Schriften eines lateinamerikanischen Theologen kritisch äußert, gerät sofort in den Verdacht, er tue dies von einer bequemen Lehr- oder Lehnstuhlposition aus, die ihm ein auf der Not der Dritten Welt auflastender Wohlstand ermöglicht. Der Vorwurf mag, was die Position angeht treffen, damit ist aber noch nichts über die sachliche Berechtigung der Kritik gesagt. Wer schreibt, veröffentlicht Geschriebenes und setzt es damit der öffentlichen Prüfung aus.

Es ist trivial, muß aber gelegentlich gesagt werden: ein Theologe eines „reichen Landes" kann gelegentlich zur Frage „das Evangelium und die Armen" Richtiges sagen. Die Tatsache, viele Jahre als Dissident im GULAG gelitten zu haben, gibt zwar dem Wort ein großes Zeugnisgewicht, garantiert aber nicht literarische, historische oder auch theologische Richtigkeit des Geschriebenen.

So trivial ist diese Feststellung nun freilich auch wieder nicht. Denn wer ihr zustimmt, hat bereits ein grundlegendes Interpretationsmuster der marxistischen Gesellschaftsanalyse abgelehnt: daß nämlich die Wahrheit eine Sache der Klassenzugehörigkeit ist, womit wir mitten in der Debatte wären. Wahrheit gebe es nur im Kampf der revolutionären Klasse, die mit der geschichtlichen Mission der Revolution betraut ist. Die römische Anfrage an Leonardo Boff betrifft — so kann man aus dem kurz davor veröffentlichten Dokument zur „Theologie der Befreiung" schließen — wohl primär diesen Punkt. Ist die „Option für die Armen" und die sie begründende Theologie der Befreiung ins Schlepptau der marxistischen Ideologie des Klassenkampfes geraten?

Die Anfrage war, so schien es, nicht primär darauf ausgerichtet, ob dieses oder jenes Element der Marx'schen Wirtschaftsanalyse verwendet werden darf oder nicht. Es ging vielmehr um die Frage, ob die Kategorie des Klassenkampfes zum universalen Deutungsschlüssel erkoren wird, der allein das rechte Verständnis aller Lebens- und Glaubensbereiche öffnet. Ob Boff seine eigenen Äußerungen in diesem Sinn versteht, wird er jetzt wohl im Anschluß an das römische Kolloquium klarstellen. In einem der umstrittenen Texte („Merkmale einer Kirche in den unterprivilegierten Klassen. Theologische Anmerkungen zur Kirche an der Basis", erschienen in: „Die Neuentdeckung der Kirche" Mainz 1980) gibt Boff zumindest Anlaß zu dieser Frage.

In diesem Text geht Boff von der Annahme aus, „daß die organisierende Achse einer Gesellschaft in ihrer spezifischen Produktionsweise besteht..., auf ihr gründet alles Weitere in der Gesellschaft". Auch die Religion? Boff nimmt, trotz dieser marxistischen Grundthese, insofern vom Marxismiis Abstand, als für ihn der religiös-kirchliche Bereich „nicht gänzlich durch das Gesellschaftsgeschehen festgelegt ist". Religion sei also nicht nur ein Produkt bestimmter (schlechter) Produktionsverhältnisse. Dennoch färbe die Klassenstruktur der Gesellschaft auch auf die Kirche ab, und da der Klassenkampf ein die Gesellschaft fundamental bestimmendes Gesetz sei, „ist es unvermeidlich, daß die Konflikte zwischen den Klassen auch die Kirche zerreißen". Es gälte unerbittlich: „Die Gläubigen stehen auf der einen und auf der anderen Seite".

Wenn die Kirche sich auf die Seite des „Herrschaftsblocks" stelle, „könnte man von einem Prozeß sprechen, in dem der Klerus dem christlichen Volk die religiösen Produktionsmittel enteignet". Das müsse aber nicht so sein. Es könne zu einem Bruch kommen, in dem die Kirche sich „für die unterprivilegierten Klassen engagiert" und „sich für einen revolutionären Dienst anbietet". Dabei käme unter den stark religiösen Massen Lateinamerikas der Religion eine positive Rolle im Befreiungskampf zu. Denn die Religion liefere der Basis „eine Legitimierung für das eigene Streben nach Befreiung". Sie ermögliche dem religiös eingestellten Volk „die Ausarbeitung einer unabhängigen und alternativen christlichen Sicht, die im Gegensatz zur herrschenden Klasse steht". Um diese Rolle spielen zu können, müsse freilich erst der revolutionäre Charakter des Evangeliums wieder freigelegt werden, der durch die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse schon lange verfälscht sei.

Daher kündigt Boff auch ein ganzes Programm der Uminter-pretation an. Es soll das Werden einer neuen Kirche (Ekklesioge-nesis) einläuten. „Aus dieser Sicht werden die Hauptstücke des Glaubens neu gedeutet und die befreienden Dimensionen wieder aufgedeckt, die objektiv in ihm stecken", die aber die bisherige Klassenstruktur der Kirche verdecke. Das heißt dann auch: „Bruch mit den herrschenden kirchlichen Traditionen", nur so könne es einen „Rückgriff auf den ursprünglichen Gehalt des Christentums" geben. Praktisch fordert Boff daher den Bruch mit den klassischen und den modernisierten Apostolatsbewegungen wie „Cursillos, christliche Familienbewegung, charismatische Erneuerung", denn, so meint Boff, „diese Art von Kirche ... ist Teil der Vorstellung der herrschenden Klasse".

Spätestens hier sind Gegenfragen nicht mehr zurückzuhalten. Sind diese Bewegungen schon deshalb, weil sie auf die persönliche Erneuerung abzielen, einfach wirkungslos für die Erneuerung der Gesellschaft? Oder: Muß sich jedes religiöse Tun zuerst einmal in seiner gesellschaftsverändern-den Potenz ausweisen, um annehmbar zu sein? Weiters: Wird Religion hier nicht doch zum bloßen Mittel zum (gesellschaftlichen Revolutions-) Zweck, wenn „das Symbolkapital des Glaubens" vor allem als Quelle des politischen Engagements eingesetzt werden soll? Bleibt genug vom Glauben übrig, wenn er zur „Mystik des Impulses" wird?

Boff will diesen Kurzschluß offensichtlich vermeiden, wenn er zum Schluß bemerkt, daß es im Befreiungsprozeß darum gehe, etwas von einer Befreiung gegenwärtig zu machen, „die die Geschichte transzendiert". Man kann nur hoffen, daß diesem Satz genug Eigengewicht bleibt. Das Kolloquium in Rom hat gezeigt, daß man miteinander sprechen kann. Die wenigen Zitate dürften aber auch deutlich gemacht haben, daß es einiges zu besprechen gab.

Der Autor ist Professor für Dogmatik in Fri-bourg (Schweiz) und Mitglied der Internationalen Theologenkommission.

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